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überhaupt wieder aus Deutschland herauszukommen.61 Sie hatte sich mit Werner getroffen
, der inzwischen in die USA emigriert war und zusammen mit seinem Freund
Robert Hichens eine Reise durch Europa und Nordafrika unternahm. Mit bitteren
Konsequenzen: Als sich ihr Bruder auf französischem Boden befand, um von dort
aus das Schiff nach Amerika zu nehmen, wurde er festgenommen und für Monate
als „feindlicher Ausländer" in einem Lager in der Normandie gefangen gehalten.62
Während sich London auf einen Luftkrieg mit Hitlerdeutschland vorbereitete, saß
Fränze hier nun als „enemy alien" und machte sich große Sorgen um ihre eigene Zukunft
wie um die ihrer Familie. Am 28. September 1939 schrieb sie an ihren Bruder:
„Dauernd üben hier die Flugzeuge, heute Abend wird zu dem Zweck ganz London
dunkel sein. Die Schulkinder verlassen schon die Stadt. Jeder holt sich eine Gasmaske
, man muss bis zu 8 Stunden dafür Schlange stehen. Bis jetzt habe ich mir
noch keine geholt. 1. Sieht sie scheusslich aus, 2. kriege ich als Deutsche vielleicht
keine, 3. ist ein schneller Tod vielleicht vorzuziehen. Ich weiss absolut nicht, was
aus mir wird."63
Acht Monate später, am 28. Mai 1940, wurde sie verhaftet und auf der Isle of Man
interniert.64 Diese Maßnahme war die Reaktion der britischen Regierung auf die
deutsche Invasion der Niederlande, Belgiens und Frankreichs und betraf alle deutschen
Flüchtlinge ohne britischen Pass bis auf diejenigen, die in Kategorie C eingeteilt
worden waren. Fränze litt sehr unter den Haftbedingungen: Wegen der schlechten
sanitären Zustände im Lager erkrankte sie mehrfach, durfte wie alle anderen
Gefangenen nur sporadisch schreiben und anfangs zwar Post, aber keine Bücher
empfangen. Immer wieder verzweifelte sie an den sich ständig zerschlagenden Hoffnungen
auf Entlassung.65 Für diese setzten ihre Mutter in der Schweiz, ihre Freunde
und Freundinnen in Großbritannien und ihr Bruder in den USA alle Hebel in Bewegung
, allerdings ohne durchschlagenden Erfolg.66 Entsprechend ironisch brachte
Käthe Vordtriede das Schicksal ihrer Familie auf den Punkt: ,„Ich war gefangen, Du
warst gefangen, er war gefangen!' - Und jeder von uns bei einer anderen Nation!"67
Fränze Vordtriede richtete die wenigen Mitteilungen, die ihr gestattet wurden, an
ihren Bruder und gab ihm jeweils Anweisungen, worüber er der Mutter berichten
solle. Oberstes Ziel war, sie nicht weiter zu belasten,68 mit der Folge, dass Käthe
Vordtriede sich kein Bild von der zunehmenden Unerträglichkeit machen konnte, die
das Lager für ihre Tochter bedeutete. So äußerte sich die Mutter immer wieder erleichtert
darüber, dass Fränze nicht im permanent bombardierten London, sondern
„in Sicherheit" war.69
Fränze hatte allerdings andere Sorgen: Ihr Pass sollte Ende April 1942 auslaufen,
und sie suchte händeringend nach einer Möglichkeit, ihn zu verlängern. Spätestens
seit Januar 1940 musste sie außerdem den Entzug der deutschen Staatsangehörigkeit
fürchten, welcher der Erklärung zur Vogelfreien gleichgekommen wäre.70 Damals
hatte die Karlsruher Gestapo beim Reichssicherheitshauptamt einen entsprechenden
Antrag gestellt, „betr. die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit der Jüdin
Käthchen Sara Vordtriede (...) und Erstreckung auf ihre Kinder Dr. Fränze Elise
Helene Vordtriede (...) und Dr. Werner Vordtriede".71 Dem Ersuchen allerdings
wurde nur zum Teil stattgegeben. Zwar war die „Sippenhaft" in der Zeit des Nationalsozialismus
eine durchaus übliche Methode, Menschen in ihrer Existenz zu ver-
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