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Schau-ins-Land: Jahresheft des Breisgau-Geschichtsvereins Schauinsland
122.2003
Seite: 94
(PDF, 58 MB)
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gaben ging bzw. um Belastungen der Gemeindeangehörigen, dann musste eine Gemeindeversammlung
einberufen werden, zu der alle steuerpflichtigen Bürger des Ortes kommen sollten.
Für einen gültigen Gemeindebeschluss hatten zwei Drittel aller stimmfähigen Bürger der Gemeinde
anwesend zu sein. Nach einer Abstimmung musste der schriftlich fixierte Gemeindebeschluss
noch von den anwesenden Mitgliedern des Bürgerausschusses und des Gemeinderates
unterzeichnet werden.

Bei einer solchen Gemeindeversammlung waren am 7. Dezember 1845 von den 62 stimmfähigen
Bürgern von Steig insgesamt 42 Bürger erschienen. Sie entschieden über den Unterhalt
des alten Bäckers und Müllers Nikolaus Blättler (1780-1851). Der 65-jährige Blättler war
unverheiratet und hatte keine Familie, die ihn im Alter unterstützen konnte. Die anwesenden
Bürger beschlossen, dass ihr Mitbürger Nikolaus Blättler bei ihnen in den Kehr treten und von
ihnen mit gewöhnlicher Nahrung und Wohnung versorgt werden müsse. Je nach Einkommensverhältnis
des Belasteten sollte Blättler länger oder kürzer verweilen. An der Verweildauer
von Ortsarmen konnten alle im Ort also ablesen, wie wohlhabend der Gastgeber war.
Die Versammlung legte fest, dass der Eintritt von Blättler in den Kehr im unteren Teil der Gemeinde
Steig bei der Witwe des ehemaligen Posthalters Hensler im Höllental zu geschehen
hatte, da im oberen Teil der Gemeinde gerade zwei andere Parteien im Kehr waren.

Altersarmut wie bei Blättler war e i n Grund für den Kehr. Krankheit und Arbeitsunfähigkeit
wie beim ledigen Konrad Meier (1804-1854) waren weitere Ursachen für diese Form der
Armenversorgung. Bei ihm beschloss die Gemeindeversammlung am 29. Oktober 1846 einstimmig
, dass er seine Nahrung und sein Obdach von Haus zu Haus zu nehmen habe. Er musste
in dem Haus anfangen, in welchem ein anderer im Kehr verstorben war. Wer als Gastgeber
nicht Gefahr laufen wollte, sich um die Leiche eines Ortsarmen in seinem Haus kümmern zu
müssen, oder wem es missfiel, in regelmäßigen Abständen von verschiedenen armen Mitbürgern
heimgesucht zu werden, konnte es machen wie Johann-Georg Heimle (1774-1853), der
Besitzer des Baschibauernhofes: Er traf am 26. Dezember 1845 mit der Gemeinde Steig die
Vereinbarung, die Arme Magdalena Bürkle (1779-1848), eine ledige Taglöhnerin, unter der
Bedingung ständig in seiner Wohnung zu verpflegen und unterzubringen, dass er von den anderen
Ortsarmen, die sich im Umgang befinden, verschont werde. Magdalena Bürkle war so
um den drohenden Kehr herumgekommen und verstarb dann bei Heimle nach etwas mehr als
zwei Jahren im April 1848. Die unterstützungsbedürftige Blödsinnige Maria Agatha Steiert
(1816-1883) kam anfangs auch um den Kehr herum. Die Gemeindeversammlung beschloss am
21. April 1844, sie durch Naturalabgaben zu unterstützen. Die Bürger sollten entsprechend
ihrer Einkommensverhältnisse die geistig Behinderte mit Brot, Mehl, Butter, Salz und, wenn
es einmal welche gab, mit Kartoffeln versorgen. Die ältere Schwester Katharina Steiert (1813-
1886) verpflichtete sich, für alles übrige wie Wohnung, Wäsche waschen und sonstige Verpflegung
unentgeltlich zu sorgen. Wer noch unterstützungsfähige Familienangehörige in der
Gemeinde hatte, stürzte nicht sofort ins soziale Elend. Ursache der Unterstützungsregelung für
die 28-jährige Agatha war der Tod der verwitweten Mutter am 23. März 1844. Die Natural-
verpflegung blieb nur Episode. Kaum einen Monat nach dem Gemeindebeschluss entschied
sich die erneut zusammengerufene Gemeindeversammlung, anstatt der behinderten Steiert Lebensmittel
zu geben, sie in den Kehr zu nehmen. Die Gründe dafür bleiben im Dunkeln; möglicherweise
war es in der Streusiedlungsgemeinde Steig mit den weit voneinander entfernten
Häusern zu aufwändig, einen regelmäßigen Lebensmittelnachschub zu organisieren. Nachdem
die geistig Behinderte bei den Gemeindebürgern im Kehr gewesen war, hatte bei ihnen ein
Lernprozess eingesetzt. Im September 1845 sowie im September 1846 wurde Maria Agatha
Steiert jeweils für ein Jahr gegen Bezahlung an einen Gemeindebürger verpfründet mit der Begründung
, dass sie sich nicht wie andere arme Personen für den Kehr eignet. Dieser Ver-
pfründungsvertrag musste jedes Jahr wieder neu beschlossen werden. So stand die Gemeindeversammlung
im September 1847 erneut vor der Entscheidung, ob Steiert wie die anderen

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