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19. Jahrhundert aufklären. Robert Scherer hat das im zweiten Jubiläumsband von 1951 („Der
Katholizismus in Deutschland und der Verlag Herder") aus damaliger Sicht getan.27 Roger
Aubert tat das implizit in seinen Beiträgen zum monumentalen Jedinschen Handbuch der Kirchengeschichte
(bei Herder natürlich, etwa in Band VI, 1971).28 Wie aktuell diese Perspektiven
für eine neue Interpretation der Deutschen Geschichte im 19. Jahrhundert sind, wurde seit
Nipperdeys großem Wurf immer deutlicher. Jüngst hat Olaf Blaschke in der Zeitschrift „Geschichte
und Gesellschaft" das 19. Jahrhundert als „Zweites konfessionelles Zeitalter" charakterisiert
.29 Franz Schnabel hatte das in gewisser Weise bereits im 4. Band seiner Deutschen
Geschichte im 19. Jahrhundert (bei Herder 1937) so ins Visier genommen.
Benjamin Herder sah sich nicht als Richter über theologische Meinungen.30 Das Spektrum
der theologischen Standardwerke, die in seiner Zeit dem Verlag sein Profil gaben, ist kaum abzugrenzen
. In der Dogmatik ragen Staudenmaier und vor allem Scheeben heraus. In der Moraltheologie
besetzte Herder mit mehreren Lehrbüchern und Compendien das Feld. Die Bibelexegese
bekam durch Werke bei Herder ganz neue Impulse, wenn auch vorwiegend traditionalistischer
Art. Mit Erfolg hat der Verlag der (heute kaum vorstellbaren) Bibelferne des
katholischen Volkes entgegengewirkt. Mit seinen vielen Schul- und Volksbibeln machte Herder
das Bibellesen bei Katholiken populär. Dabei blieb das katholische (bzw. Herdersche) Bibelverständnis
allerdings zunächst eher narrativ als reflexiv. Es zählte sodann die Apologetik
zu den zentralen Verlagsinteressen, symptomatisch für die Theologie des 19. Jahrhunderts, zumal
im Prozess der neuen Konfessionalisierung. In diesen Zusammenhang gehören auch die
vielen Bekehrungsgeschichten, die Benjamin Herder herausbrachte. War doch seine eigene
Zeit reich an prominenten Konvertiten (Graf zu Stolberg, Kardinal Newman, August Gfrörer
hier in Freiburg und viele mehr). Ein Herzensanliegen war ihm die Kirchengeschichte. Mit den
Autoren Hefele, Pastor, Hergenröther, Döllinger u. a. hatte er profilierte und ungemein fleißige
Fachleute an das Haus Herder gebunden. Geschichte machte auch einen erheblichen Teil des
Kirchenlexikons aus, das Wetzer und Welte mehr schlecht als recht betreuten. Die Beiträge waren
nach Umfang und Qualität ähnlich unausgeglichen wie in dem von Rotteck und Welcker
herausgegebenen Staatslexikon, das übrigens - natürlich - nie bei Herder erschienen ist. So
aufgeklärt liberal war das Haus nun unter Benjamin Herder wirklich nicht (mehr).
Die Einbindung Benjamin Herders und seines Verlages in die „katholische Bewegung" hat
wesentlich zur Re-Konstruktion der katholischen Welt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
beigetragen. Sie bedeutete indes keine völlige Abkehr von den Errungenschaften der katholischen
Spätaufklärung. Verleger und Verlag hielten entschieden an der Grundidee der Aufklärer
fest, die Menschen (und zwar die Menschen aller Stände) durch Bildung zu erheben, vor
allem durch Bildung mit dem gedruckten Wort. Pressefreiheit war für sie naturgemäß ein
ebenso hohes Gut wie für die Liberalen. Zweimal erlebte der Verlag polizeiliche Durchsuchungen
aus politischen Gründen. Nie wurde das Verlagsprogramm auf das Religiös-Theologische
begrenzt. Wichtige Werke der Medizin, der Naturwissenschaften, der Geschichte und
Politik, der Philosophie und Kunst gehörten fest in das Sortiment. Worin Benjamin Herder den
Liberalismus ablehnte und bekämpfte, war neben dem zeitweiligem Antiklerikalismus und
dem staatlichem Omnipotenzanspruch der Liberalen deren zuweilen fanatische Vernunftgläubigkeit
. Aus der Sicht des seit der Romantik (etwa mit Brentano, Eichendorff oder Görres) wiedererstarkenden
Katholizismus konnte die Vernunft allein oder auch die vernunftgeleitete Humanität
dem Menschen nicht genügen. Die Seele, ja die innere Sehnsucht der Menschen verlangte
nach mehr. Herder gab mit seinen Büchern Geist und Gemüt der Menschen Nahrung.
27 Robert Scherer: 150 Jahre Geschichte des theologischen Denkens im Verlag Herder. In: Der Katholizismus in
Deutschland (wie Anm. 16), S. 18-56.
28 Handbuch der Kirchengeschichte, Band VI, o. O. 1971, besonders S. 259 ff.
29 Geschichte und Gesellschaft 2000/1, S. 38-75.
30 Brief an Hefele vom 27.11.1872; Kasper (wie Anm. 5), S. 213.
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