http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/schauinsland2003/0154
Dieses Schreiben belegt, dass man in Schramberg über den Effektenbesitz des Verblichenen
detailliert Bescheid wusste.86 Dieses Wissen lässt meiner Einschätzung nach keinen anderen
Schluss zu, als dass Gillmann seine angeblichen Kinder bzw. seinen Schwiegersohn Wilhelm
Aichele schon zu einem relativ frühen Zeitpunkt über den Umfang und die Zusammensetzung
seines Privatvermögens in Kenntnis gesetzt haben dürfte. Ein solcher Informationsfluss setzt
persönliche Beziehungen voraus, die über einen längeren Zeitraum gepflegt worden sein müssen
. Eine Bestätigung hierfür liefert das dritte und letzte Schreiben Wilhelm Aicheies, das sich
in der Gillmannschen Hinterlassenschaftsakte findet, vom 5. Juli 1897 datiert und wiederum
an den Großherzoglichen Notar Fuchs adressiert wurde:
Für Ihre gnt Zuschrift spreche ich hiermit meinen besten Dank aus u. erlaube mir gleichzeitig
Ihnen noch eine81 Mittheilung zu unterbreiten.
Vor etwa 3 Jahren hat der sei. herr Pfarrer Gillmann sich meiner Frau u. mir gegenüber
geäußert, daß wir noch 10000, an denen wir allerdings etwa 3000 Mark erhalten haben,
nach seinem Tode erhalten werden. Ebenso hat er mir seine gold. Uhr sammt gold. Kette,
1 Fernglas*8 sowie ein gold Bleistifthalter u. seine goldene Brille u. eine alte Flöte sowie
den von s. Tochter eigenhändig angefert: Glockenzug u. noch anderes89 mit aller Bestimmtheit
versprochen. Im Hause des Herrn Bankier Dukas ist uns dises Versprechen zu
gesagt worden vom herr Pfarrer selbst.
Soll dies Alles zu Nichts geworden sein, dann steckt etwas dahinter, über das ich mich90
Jetzt noch nicht äußern will.
Es ist grausam für die 2 Töchtern des verstorb. Pf. G. mit eigenen Augen ansehen zu müssen
, wie fremde Hände, den Kindern zugesagte Sachen wegziehen u. zudem qualvoll das
Dasein unter fremden Leuten fristen müssen.
Wenn hier die Großherzogl. Gerichtsbarkeit, den armen Kindern nicht zur Seite steht, so
wird das traurige Verhältniß der Oeffentlichkeit nicht mehr lange entzogen bleiben.
Ob Wilhelm Aichele seine im soeben zitierten Brief in unverhohlener Form geäußerte Drohung
, die Lage der Dinge nötigenfalls publik werden zu lassen, wahr gemacht hat, lässt sich
auf dem Stand unseres gegenwärtigen Wissens nicht sicher entscheiden. Auch dem bereits in
skizzenhafter Form referierten Fortgang der Verlassenschaftsverhandlung lässt sich keinerlei
86 Schon vor über 100 Jahren bestand die Möglichkeit, sich Informationen über das aktuelle Börsengeschehen zu
verschaffen. So könnten Wilhelm und Helene Aichele etwa über die Tagespresse die Börsenkurse verfolgt haben
. (In diesem Zusammenhang sei beispielsweise auf ein Exemplar des 'Öffentlichen Börsen-Kursblatts der
Maklerkammer zu Frankfurt a. M.' hingewiesen, das sich in der Gillmannschen Hinterlassenschaftsakte findet,
vom 31. Mai 1897 [Jg. 1, Nr. 124] datiert und, wie handschriftliche Markierungen zeigen, der Wertfeststellung
der im Gillmann-Nachlass befindlichen Effekten diente.) Die Detailkenntnisse des Briefschreibers bzw. dessen
besonderes Interesse an den Wertpapieren des Verstorbenen hängen jedoch möglicherweise auch mit Wilhelm
Aicheies persönlichen Beziehungen zu den Gebr Junghans zusammen, die im Brief vom 4. Juni 1897 aufscheinen
(hierzu Anm. 84): In Schramberg wurden in der Fabrik der Gebrüder Junghans (Firmenbezeichnung: 'Uhrenfabriken
Gebrüder Junghans A. G. Schramberg/Württ.') seit 1861 Uhren produziert. Literatur: Deutsche biographische
Enzyklopädie, Bd. 5, 1997, S. 382 f.; weiter: Bender (wie Anm. 63), S. 252-260 (m. Lit.). Insgesamt
scheint mir die Annahme, Aichele selbst könnte bei den risikoreichen Investments seines Schwiegervaters zumindest
eine beratende Funktion ausgeübt haben, nicht völlig von der Hand zu weisen zu sein. Übrigens geht
aus einem in der Personalakte befindlichen Schreiben Gillmanns, das vom 9. April 1892 datiert und an das Dekanat
(Kirchzarten) adressiert ist, hervor, dass Wilhelm Aichele konkurs gegangen war und Gillmann in den Jahren
1891 und 1892 jeweils einen kurzen Besuch abgestattet hatte. Allerdings lässt der Umstand, dass es sich bei
diesem Brief um ein Rechtfertigungsschreiben (gegen entsprechende Vorwürfe der Kirchenbehörden) handelt,
prinzipiell Zweifel am Wahrheitsgehalt der darin gemachten Aussagen aufkommen.
87 eine: oberhalb der Zeile nachgetragen.
88 1 Fernglas: hinter der Zeile nachgetragen.
89 sowie ... anderes: unterhalb des Textabschnitts nachgetragen und durch Versetzungszeichen # (nach Flöte) markiert
.
90 mich: oberhalb der Zeile nachgetragen.
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