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serviert leben müsste, da nicht nur die ganze Univ(ersität), sondern die ganze Stadt mich beobachten
und kritisieren würde. Ganz so bieder allerdings scheint es auch im Freiburg der
1890er-Jahre nicht mehr zugegangen zu sein. Zumindest hatten ihre beiden Jugendfreunde Georg
Rodenacker und Georg Pietrkowski, die schon länger in Freiburg Medizin studierten und
ihre zukünftige Kommilitonin ebenfalls am Freiburger Hauptbahnhof in Empfang nahmen, andere
Vorstellungen davon, wie sie die gemeinsame Zeit an der Dreisam gestalten könnten: Von
meiner rechten Seite (Keibel ging zu ihrer linken, d.A.) aber tuschelten m(eine) beiden
Freunde (...) mir zu, sie hätten bereits eine herrliche ,sturmfreie Bude'für mich ausgesucht,
ganz in ihrer Nähe, wo ich gänzlich frei und unabhängig, unbeaufsichtigt, unbehütet, so leben
könnte, wie es für uns 3 am lustigsten wäre.31 Sie entschied sich freilich, auf den ersten Rat zu
hören und mietete ein Zimmer in einer von dem (...) Prof. der Anatomie empfohlenen, bzw. befohlenen
Pension.22 Ihren Startvorteil, der darin bestand, dass sie mindestens einen Fürsprecher
unter den Professoren hatte, wollte sie mit Sicherheit nicht verspielen.
Allerdings wusste sie die Zeit bis zum Beginn der Vorlesungen im Sinne ihrer beiden
Freunde zu nutzen, indem sie sich mit einem anderen jungen Mann zu einer Urlaubsfahrt durch
die Vogesen aufmachte um, wie sie sich später ausdrückte, ihren ersten Sündenfall zu begehen
?3 Ihren Reisegefährten hatte sie bereits 1892 während ihres England-Aufenthaltes kennen
gelernt. Er war baptistischer Geistlicher, und hier lag der Grund, weshalb aus der Liaison keine
dauerhafte Beziehung werden konnte: Schmerzlich trennend war u(nd) blieb nur unsere so gegensätzliche
Einstellung zur Religion, die ihm das Höchste bedeutete, u(nd) mir so gar nichts.
Ich war ein ausgesprochener Atheist, (...) und ich begriff, dass ich ihm s(ein) Leben ruinieren
würde, wenn ich ihn heiratete.34 Dennoch trafen sich die beiden während Fajans' Freiburger
Studienzeit alle paar Wochen zum Wochenanfang für 2-3 Tg. und unternahmen bis zu ihrem
Weggang im Jahr 1899 ausgiebige Ferienreisen.35
Offensichtlich störten derlei Eskapaden keineswegs ihre Studienfortschritte, sondern weckten
in der jungen Frau im Gegenteil eine Schwungkraft, Aufnahmefähigkeit, Aktivität (...), die
mich vor keiner Schwierigkeit zurückschrecken Hessen. Und davon gab es viele.36 Das größte
Problem bestand offenbar in ihren unzulänglichen naturwissenschaftlichen Kenntnissen.
Während sie in Physik den Anschluss gerade noch halten konnte, was ich lediglich dem glänzenden
Colleg des Prof. Himstedt verdankte, gelang es ihr nie, irgendein Verständnis für Chemie
zu entwickeln. Hier bestand sie ihre Prüfungen lediglich durch mühevollstes Auswendiglernen
.31 Voller Begeisterung hingegen berichtete sie über ihre Veranstaltungen in Zoologie bei
August Weismann, in Physiologie bei Johannes von Kries, in Anatomie bei Robert Wieders-
heim, Franz Keibel und Ernst Gaupp, sowie bei letzterem in Embryologie.38 Offenbar wurde
die Studentin in Freiburg sowohl von ihren Dozenten als auch von ihren Kommilitonen stets
respektvoll und zuvorkommend behandelt. Selbst von den Institutsdienern wurde ich sehr be-
vatert u(nd) verwöhnt, ganz als zartes Fräulein behandelt. So wartete manchmal der Chemiediener
vor der Vorlesung auf mich, um mir zuzuflüstern:, Erschrecken Sie nicht, heute wird geknallt
.'3^
31 Ebd., S. 67.
32 Ebd., S. 70. Diese Passage hat Olga Hempel wieder gestrichen - allerdings nicht wegen mangelnden Wahrheitsgehaltes
, sondern weil sie festgestellt hat, dass sie darüber einige Seiten vorher bereits berichtet hatte. Auch
ihre Enkelin Irene Gill schildert dieses Verfahren: She sometimes repeats herseif, and when she notices this, cros-
ses out whole pages angrily. Gill (wie Anm. 4), S. 1.
33 Hempel (wie Anm. 3), S. 68.
34 Ebd., S. 70 f.
35 Ebd., S. 71.
36 Ebd.
37 Ebd., S. 72.
3« Ebd., S. 74.
39 Ebd., S. 75.
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