http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/schauinsland2007/0257
Annerose Heitier war bereits vor dem Novemberpogrom von Bollschweil aus nach England
emigriert. Am 22. Oktober landete sie in Dover, wo ihr der Immigration Officer seinen lebensrettenden
Stempel in ihren Pass drückte.241 Sie hatte die Einreisegenehmigung erhalten,
weil ihr Bruder Walter Heitier, der weiterhin in Bristol tätig war, als Emigrant mit festem Einkommen
für sie finanziell bürgen konnte. Ohne diese Bürgschaft und die Aussicht auf Unterstützung
hätte auch Hans Heitier nicht emigrieren können, zumal gemeinsam mit der Mutter,
für die zu sorgen war. Allerdings waren die Bedingungen für eine Einreise nach England jetzt
günstiger als noch wenige Monate zuvor. Die Novemberereignisse - eine Orgie der Barbarei,
wie die britische Presse einhellig urteilte, die mit ihren heimtückischen Überfällen auf wehrlose
und unschuldige Menschen ... die ganze Welt mit Entsetzen erfüllt - hatten in England einen
Sturm der Entrüstung hervorgerufen und die britische Regierung bestimmt, nun den Verfolgten
großzügiger Aufnahme und Unterstützung zu gewähren.242
Vor der Abreise hatte Hans Heitier zunächst noch seine Judenvermögensabgabe - 1400
Reichsmark - zu entrichten, seinen Anteil an der den deutschen Juden für das Attentat auf den
Pariser Botschaftssekretär auferlegten ,Sühneleistung* von einer Milliarde Reichsmark.243 Für
seine Wertpapiere, die zu veräußern waren, transferierte ihm die Preußische Staatsbank Berlin,
bei einem Annahmewert von 2820,60 RM, sechs Prozent, das waren 169,24 RM, in Devisen
nach England. Für die Erlaubnis zur Mitnahme von Umzugsgut musste er an die Deutsche
Golddiskontbank Berlin eine Abgabe von 505 RM leisten. Sein restliches Guthaben wurde gesperrt
. An Bargeld durfte er, wie alle anderen jüdischen Emigranten auch. 10 RM in fremder
Währung mitnehmen. Der Mutter Ottilie Heitier erging es mit ihrem ebenfalls bescheidenen
Vermögen nicht anders,244 und auch Annerose Heitier hatte - neben der Vermögensabgabe -
für die Genehmigung zur Versendung ihres bescheidenen Umzugsgutes, wie ihr die Devisenstelle
beim Oberfinanzpräsidenten Baden in Karlsruhe am 6. Oktober 1938 nach Bollschweil
/Baden, Kinderheim Sonnenhalde, mitteilte, 300 RM an die Berliner Golddiskontbank
zu zahlen.245
Da die drei Emigranten bei ihrer Ankunft auf der Insel völlig mittellos waren und die Geschwister
zunächst auch keine Arbeit fanden, waren sie ganz auf die Unterstützung durch den
Sohn und Bruder angewiesen. Zu viert lebten sie zunächst gemeinsam in einer Dreizimmerwohnung
.246 Annerose Heitier, die Privatunterricht in Französisch zu geben suchte, hatte noch
jahrelang keine oder nur geringe Einkünfte.14,1 Hans Heitier erhielt wenigstens Anfang 1940 an
der Universität Bristol, am Physikdepartment seines Bruders, eine befristete Halbtagsbeschäftigung
; seit Oktober 1942 arbeitete er dort ganztags. Erst Mitte 1946 wurde er als Research Assistant
fest angestellt.248 Übrigens gelangte in jenen Jahren auch ein Dozent aus Hans Heitiers
241 Vgl. die Bescheinigung der Deutschen Botschaft in Dublin vom 18.11.1955 sowie Annerose Heitiers Schreiben
vom 28.3.1955 und 1.9.1957. StAF. F 196/1 Fasz. EF 7949. Heft 1 und 2.
242 Kein anderes Land ist damals den vertriebenen Juden in gleicher Weise zur Hilfe gekommen. Vgl. dazu im Einzelnen
Sauer (wie Anm. 207), S. 183ff. Deshalb gingen auch die meisten der zur Emigration entschlossenen
württembergischen Juden zunächst nach England, wie der Geheimbericht des Sicherheitsdienstes für Ende 1938
festhält, viele allerdings mit einer Option auf eine anschließende Einwanderung in die Vereinigten Staaten.
Sauer (wie Anm. 211), Bd. 2, S. 54 und 92. Vgl. Strickhausen (wie Anm. 207), Sp. 253. Vgl. auch oben den
Text zu Marga und Dr. Paul Goldschmidt.
243 Vgl. zu der .Sühneleistung' und den anderen, den Emigranten auferlegten Abgaben Friedenberger (wie Anm.
152). S. 12ff.
244 StAL, K 50/1579 (Rückerstattung Hans Heitier), EL 350 Büschel ES 13427 (Wiedergutmachung Ottilie Heitier
).
2« StAF. F 196/1 Fasz. EF 7949, Heft 2.
246 Heitler: Lebenserinnerungen (wie Anm. 177).
247 Schreiben Annerose Heitiers vom 1.9.1957 an das Landesamt für Wiedergutmachung. StAF. F 196/1 Fasz. EF
7949. Heft 2.
248 Schreiben Hans Heitiers vom 7.4.1955. StAL, EL 350 Büschel ES 12938.
257
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/schauinsland2007/0257