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dass dieser das Ausmaß der „Armen" in der Gesellschaft und damit die soziale Problematik
nicht hinreichend deutlich werden lässt. Hat Galler seine Angaben schöngefärbt oder unterlag
er einer selektiven Wahrnehmung?70 Das gesellschaftliche Ideal sah Galler jedenfalls im begüterten
, moderat reichen Bauern, d. h. in einer breiten Mittelschicht:
So schädlich die allzugroße Verstückelung der Grundstücke ist, eben so wenig Vorteil hat sich das gemeine
Wesen von denen allzugroßen Bauernhöfen zu versprechen. Im erstem Fall gieht es gewöhnlich arme und
zugleich liederliche Leute, die sich vom Feldhau nicht ernähren können und sich doch schämen, durch Tagelohn
ihr Brod zu gewinnen ... Die Bauerngüter von zu großem Umfang hingegen werden selten, teils
aus Mangel an Besserung [Dung], teils aus Abgang [Mangel] an Tagelöhnern gehörig gebauet. Öfters
macht auch der reiche Bauer den kleinen Dorftyrannen, indem er nach und nach alles an sich kauft, wozu
den übrigen das Geld fehlet.11
Zumindest in der Haltung gegenüber der unterbäuerlichen Schicht, den „Armen", folgte Galler
den gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Vorstellungen, die führende Beamte in Baden
zur Rentabilisierung der Höfe entworfen hatten. Schon 1776 vertrat Rentkammerpräsident von
Gayling die Meinung, dass die Güter solcher Leute, deren Besitzungen keinen eigenen Zug verlohnten
, an andere vermöglichere Eigenthümer verpachtet werden sollten. Und im gleichen
Sinne beschrieb Johann Georg Schlosser die kleinbäuerlichen Betriebe mit unverhältnismäßiger
Viehhaltung als wesentliches Hindernis für eine wohlstandssteigernde Agrarreform:
Große Verbesserungen sind bei der Verteilung der Güter unmöglich ... erfordern viele Hände und Vorschuß
, der kleine Bauer kann diese nicht aufbringen ... [Der Kleinbauer] lebt von seinen Gütern, wie ein
Meister, [wäre er] dienstbar oder Tagelöhner, so müßte er sich mit seinem Taglohn begnügen, und das was
er jetzt unnötig verschwendet, bliebe in der Hand des Bauern [der ihn als Taglöhne r beschäftigt], welche
von dem Ertrag umso mehr verkaufen, also Geld ins Land schaffen könnten.72
Landwirtschaft: Ackerbau und Weinbau
Es war sicherlich kein wissenschaftlich-theoretisches, sondern ein höchst praktisches Interesse,
das Niklas von Galler der Landwirtschaft in den badischen Oberämtern entgegenbrachte. Denn
die im 18. Jahrhundert schnell wachsende Bevölkerung73 musste jahrein, jahraus in ausreichendem
Maße mit Nahrungsmitteln versorgt werden, und die Landwirtschaft hielt mit der steigenden
Nachfrage nicht oder nur mühsam Schritt. Betroffen von den steigenden Preisen - bei
retardierenden Löhnen - waren vor allem diejenigen Menschen, die darauf angewiesen waren,
Nahrungsmittel ganz oder teilweise zu kaufen - also Kleinbauern, Taglöhner und Lohnarbeiter
.74 Großbauern hingegen verdienten sowohl an den kontinuierlich steigenden Preisen als
auch an den kurzfristigen Preissprüngen in Notjahren.
70 Dazu Franz Quarthal: Öffentliche Armut, Akademikerschwemme und Massenarbeitslosigkeit im Zeitalter des
Barock (Oberrheinische Studien 6). Karlsruhe 1985, S. 153-188, hier S. 183: „Die wirtschaftliche und soziale
Realität der Handwerker und Bauern während des 18. Jahrhunderts sah jedoch anders aus, als sie sich in den akademischen
Reformschriften darstellte.*' Siehe auch S. 78f.
71 Das Badische Oberland (wie Anm. 1), S. 55.
72 Zitat von Gayling: Straub (wie Anm. 15), S. 129; Zitat von Schlosser: Zimmkrmann (wie Anm. 15), S. 72f., dort
Anm. 143, und S. 73 mit Anm. 145.
" Siehe S. 85f.
74 Vgl. S. 88f.
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