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ber, remembrance und andere Ableitungen zu bedeutungsstarken Wörtern in den europäischen
Sprachen geworden.4
Diese Gedenkkultur wurzelt im Kernbestand der jüdischen Religion, der Erinnerung an die
Heilstaten Gottes für sein Volk. Auch griechisches und römisches Erbgut lebt in unserer europäischen
Erinnerungskultur weiter. In klassisch gewordenen Werken haben Griechen das
Gegen- und Miteinander von Hellenen und Barbaren, haben Römer die Entwicklung ihrer
Stadtkultur zu einer Weltkultur festgehalten. Im Streben nach historischer Genauigkeit haben
die Griechen vergangene Ereignisse nach Olympiaden, die Römer nach den Jahren seit Gründung
ihrer Stadt datiert {ab urbe conditä), der Tradition zufolge im Jahr 753 vor Christi Geburt.
Als Erben bedeutender Teile der jüdischen, der griechischen und der römischen Kultur pflegen
Christen das Gedenken. Welches Gewicht der christlich geprägte Blick auf den Lauf der
Zeiten bis in die Gegenwart hat, zeigen Hilfen, die wir nicht hinterfragen, weil sie zum Alltag
gehören: Weltweit zählt man die Jahre nach der Geburt Christi. Andere Aren sind weniger verbreitet
; so richten Muslime sich an einem für ihren Glauben bedeutsamen Ereignis aus, dem
Auszug des Propheten Mohammed nach Medina (Hedschra), im Jahre 622 nach Christi Geburt.
Juden datieren nach der Erschaffung der Welt, für die ihre Gelehrten einst das Jahr 3761 vor
Christi Geburt errechnet haben.5
Die Woche schließt für Juden mit dem Sabbat ab; für Christen beginnt sie mit dem Sonntag,
den Kaiser Konstantin im Jahr 321 als Tag der Auferstehung Christi zum wöchentlichen Ruhetag
erklärt hat.6 Dem Christentum verdanken wir den größten Teil unseres Festkalenders, zu
dem Weihnachten, Ostern und Pfingsten gehören, mit jeweils zwei arbeitsfreien Tagen. Von den
vielen Heiligen, die vor allem an ihrem Todestag - verstanden als Tag des Eingangs zum ewigen
Leben - verehrt wurden und werden, sind Martin und Nikolaus weithin bekannt, Silvester
immerhin noch als Datum. In Freiburg lassen einzelne Stadtteile es sich nicht nehmen, den Patron
ihrer Kirche besonders zu feiern. So wird in dem ehemaligen Winzerdorf Herdern am
Sonntag nach dem 25. Mai das Fest Urbans, des Schutzheiligen der Rebleute, ausgestaltet und
dazu auch die Statue des Heiligen in einer Prozession durch den Ort getragen; Trauben der letzten
Ernte schmücken die Figur, Blumen und Fahnen säumen die Straßen.
Die Namen der Monate und der Wochentage seien wenigstens erwähnt: Januar, Februar,
März usf. haben wir von den Römern übernommen, Sonntag bis Samstag aus dem germanischen
Sprachbereich. Abgesehen von Mittwoch sind sie ,heidnischen' Ursprungs. In den romanischen
Sprachen ist das Wort für Sonntag christlicher Herkunft; französisch dimanche geht auf
lateinisch dies dominicus zurück, „Herrentag".
Beispiellos ist die abendländische Erinnerungskultur hinsichtlich ihrer Tiefe und Breite.
Sogar ein Schülerlexikon weist zahlreiche, möglichst genau datierte Personen, Ereignisse und
Entwicklungen aus, und zwar nicht nur der westlichen Welt.7 Bedacht werden sie vor allem bei
Jubiläen, ein weiteres Erbe des alttestamentlichen Judentums. Wir feiern Personen und Ereignisse
, wenn ihr in Jahren gemessenes Alter mindestens durch fünf teilbar ist, besser durch 25,
4 Als der Autor an diesem Beitrag arbeitete, hat Königin Elizabeth II. das Aufsehen, das ihr Staatsbesuch in der
Republik Irland erregt hat, noch durch einen Gang in den ,Garden of Remembrance' verstärkt. Der ,Garten der
Erinnerung' in Dublin ist den Iren gewidmet, die im Freiheitskampf gegen England ihr Leben gelassen haben. Mit
der für alle sichtbaren Ehrung der Freiheitskämpfer hat die Königin nach Meinung auch kritischer Beobachter die
Verständigung zwischen den jahrhundertelang verfeindeten Iren und Engländern entscheidend gefördert.
5 Einzelheiten in: Peter-Johannes Schuler: Artikel „Historische Chronologie: Westliches Abendland", in:
Lexikon des Mittelalters, Bd. 2, München/Zürich 1983, Sp. 2037-2043; Peter Freimark: Artikel „Historische
Chronologie: Jüdische Zeitrechnung", in: ebd., Sp. 2046f; Tilman Nagel: Artikel „Historische Chronologie:
Arabisch-islamische Zeitrechnung", in: ebd., Sp. 2047f.
6 Arnold Angenendt: Das Frühmittelalter. Die abendländische Christenheit von 400 bis 900, Stuttgart u.a. 21995,
S. 58.
7 Das Einzigartige unserer Kultur macht schon ein Blick in das biografische Lexikon zu einer anderen Hochkultur
deutlich. Vgl. Firoz Alam: Great Indian Personalities (The World's Greats Also), Delhi 2009.
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