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chenden Absicht des Kanzlers Helmut Kohl zu zweifeln aus Furcht vor dem Ergebnis einer
Abstimmung über die Vertrauensfrage nach Artikel 68 GG (die jedoch am 17. Dezember 1982
gestellt wurde und zur Auflösung des Bundestags sowie zur vorgezogenen Neuwahl desselben
am 6. März 1983, mit einer Bestätigung der christlich-liberalen Bundesregierung, führte).
Äußerst kritisch setzte sich Schmidt mit seinem bisherigen Koalitionspartner FDP und
besonders mit dem Parteivorsitzenden und Außenminister Hans Dietrich Genscher auseinander,
dem er ebenso wie Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff den Vorwurf machte: Tagsüber
saßen sie bei mir am Kabinettstisch, aber im Dunkeln haben sie mit Herrn Kohl gemunkelt"1*2
Auf dem Feld der „Außenpolitik" hegte Helmut Schmidt Zweifel an dem Willen der Nachfolgeregierung
zur Fortsetzung der Entspannungspolitik mit den Ostblock-Staaten. Doch wollte
er einzelne Elemente der Kontinuität in den Erklärungen Kohls nicht übersehen. Deutliche
Worte fand er für - oder: richtiger - gegen Otto von Habsburg, österreichischer Thronfolger
und CSU-Abgeordneter im Europaparlament, der, ohne Widerspruch bei der Freiburger CDU
zu ernten, eine Auflösung der Ostverträge und damit des Herzstücks sozialliberaler Entspannungspolitik
verlangt habe - - ungeachtet der möglichen Folgen eines solchen Schritts.33
Von dem ehemaligen Kanzler offensichtlich nicht ausführlich thematisiert wurde die Frage
des NATO-Doppelbeschlusses - nämlich die Problematik der Stationierung amerikanischer
atomarer Mittelstreckenraketen in der Mitte Europas im Falle des Scheiterns von Verhandlungen
mit der Sowjetunion sowie, vor dem Hintergrund heftiger SPD-interner Konflikte,
die Folgen dieses „Gegenstandsbereichs" für die Zukunft seiner eigenen Regierung. Doch
mochte der Ex-Kanzler sich auch deshalb für Böhmes Kandidatur einsetzen, weil dieser im
Unterschied zu anderen sozialdemokratischen Mandatsträgern dessen komplexe Politik der
Rüstungskontrolle unterstützt hatte.34
In Schmidts Wahlrede ausgeklammert blieb ferner das Thema „Kernkraft" möglicherweise
, so eine Vermutung, um wie in der Rüstungsfrage die grüne Wählerklientel nicht zu Lasten
des SPD-Kandidaten zu verprellen. Zum Abschluss der Veranstaltung, in welcher er durchaus
auch polemische Töne z.B. hinsichtlich der „Adligen" von Ungern-Sternberg und Graf Lambsdorff
verlauten ließ, empfahl der Regierungschef a.D. die Wahl Böhmes zum Freiburger Oberbürgermeister
.
Bei seinem Aufenthalt in Freiburg erweckte Helmut Schmidt nicht den Eindruck, dass der
Verlust der Regierungsmacht ihn von einer Belastung befreit habe. Der „Südkurier"-Journalist
Karl-Heinz Zurbonsen, der nach der Wahlveranstaltung offenbar als einziger Pressevertreter im
Hotel Oberkirch am Münsterplatz anwesend sein durfte und des Ex-Kanzlers Frage „Wie war
ich?" hörte, erkannte ein angeschlagenes Selbstbewusstsein und Selbstzweifel [...], wie ich sie
vorher bei ihm noch nicht gehört hatte - so zum Beispiel bei seinem Wahlkampf auf tritt anlässlich
der Bundestagswahl 1980 in der VAG-Bushalle. Flugs vergattern mich die Sozialdemokraten
, dass aus den Gesprächen im Hinterzimmer nichts an die Öffentlichkeit getragen werden
sollte?5
Wieselmann (wie Anm. 25).
Die wichtigsten Fakten über Otto von Habsburg (1912-2001), 1916-1918 österreichisch-ungarischer Kronprinz,
1979-1999 Mitglied des Europäischen Parlaments (CSU), in: Lothar Höbelt: Die Habsburger. Aufstieg und
Glanz einer europäischen Dynastie, Stuttgart 2009, S. 172-174.
Bernt Waldmann: Ein politischer Mensch, in: Über Jahr und Tag (wie Anm. 21), S. 265, der berichtet, dass „die SPD
in Freiburg in der damaligen Zeit [...] vom so genannten ,linken Flügel' beherrscht (wurde), der der Neutralisierung
Deutschlands und nicht dem NATO-Doppelbeschluss zuneigte. Ich erinnere mich ganz persönlich an einen Abend,
bei dem das besonders deutlich wurde. Es ging um diesen NATO-Doppelbeschluss, den Helmut Schmidt so intensiv
unterstützte. Rolf Böhme war der einzige aus der SPD in Freiburg, der für diese Politik die Hand hob, die meisten
stimmten gegen den Beschluss oder enthielten sich."
Schreiben Karl-Heinz Zurbonsen vom 9.5.2012; hierzu auch Zurbonsen (wie Anm. 24). Helmut Schmidt äußerte sich
selbst (im Jahre 1998) über sein Verhältnis zur Macht: „Ich war erleichtert, als ich sie los war. Seien Sie mal verantwortlich
dafür, dass Sie einen ernsthaften Konflikt wie zum Beispiel mit der Führung der Vereinigten Staaten von
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