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leicht schon mit Blick auf die Nachwelt. Dies würde erklären, warum sie zum Teil im Pluralis
Majestatis schreibt und damit nur immanent den Leser oder einen weiteren Erzähler meint.19
Allerdings wird das „wir" von Anni Aschoff auch verwendet, wenn sie von der Gruppe der
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Schwestern und Helfern spricht und sich so als Teil des Kollektivs sieht. Diese Absicht würde
auch dem Geist der Familie entsprechen, wenn man bedenkt, dass die Briefe des Vaters an
die Verwandtschaft von der Studienzeit bis ins Jahr 1940 gesammelt und als Buch herausgegeben
wurden.21
Die Tagebuchstruktur des „Zweiten Buches" lässt dessen Zeitraum sehr genau und mit hoher
Wahrscheinlichkeit auf den 3. Februar 1915 bis 14. April 1915 datieren. Warum Anni A-
schoff nach diesem Zeitpunkt mit ihren Notizen aufgehört hat oder ob es noch weitere Bücher
gab, welche mit den Jahren verloren gingen, ist leider unklar. Allerdings fällt auf, dass sie beide
Bücher mit dem Tod eines Patienten bzw. einem Begräbnis enden lässt. Dies könnte auf
eine emotional schwierige Zeit der Autorin hindeuten, die ihr das Schreiben unmöglich gemacht
hätte.
Das „Zweite Buch" ist im Vergleich zum „Ersten Buch" recht unsauber geschrieben, oft
werden Rechtschreibfehler gemacht, Wörter gestrichen oder verbessert - dies spricht für die
Authentizität und Unverfälschtheit der Quelle. Auch dass sie darin ihre Gefühlswelt immer
wieder offenbart, erhärtet diese These. Am 8. März 1915 schreibt sie z.B.:
Es gibt [A]ugenblicke wo [man] meint all dies Entsetzliche könne nicht wa[h]r sein
und alles in einem wehrt sich dagegen und kann es nicht glauben. Wenn die Soldaten
manchmal so kaltblütig von ihren Erlebnissen erzählen^] dann muß ich einfach still
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herausgehn, ich kann es nicht mit anhören.
In diesen Notizen wird dem Leser vor Augen geführt, dass es sich bei der Autorin um ein
erst 19 Jahre altes Mädchen handelt, welches bis zum Kriegsausbruch ein sehr privilegiertes
und behütetes Leben geführt hat. Man könnte annehmen, dass es der Tochter eines renommierten
Pathologen nichts ausmacht, in der Kriegskrankenpflege tätig zu sein, doch das Gegenteil
wird dem Leser in den Aufschrieben der jungen Anni Aschoff klar. Sie ist schockiert und teilweise
überfordert damit, so viele Schwerstverwundete zu versorgen, ihre Geschichten zu hören
und sie sterben zu sehen.
Zu Beginn des Krieges hätte kaum jemand einen derart brutalen und verlustreichen Verlauf
vermutet. Zahlreiche Pressemeldungen, in denen noch von einer geringen Verletzungsgefahr
und einer verbesserten medizinischen Versorgung der Truppen vom Feld bis zurück an die
Heimatfront die Rede war, belegen dies. Doch die Realität holte Freiburg als frontnahe Lazarettstadt
bald ein: „Neben der Ankunft von französischen Kriegsgefangenen stellten die[se]
Verwundetentransporte für manche Freiburger offenbar ein gleichzeitig interessantes wie
grausiges Schauspiel dar."23
Es scheint Anni zu entsetzen, dass das Leiden und Sterben der verletzten Soldaten sie als
eine der wenigen unter dem Pflegepersonal so sehr berührt:
Auf die Schwestern wirkt so etwas gar nicht mehr.24
19 Deutsches Tagebucharchiv e.V. Emmendingen, 2001/1, Z. 250.
20 Ebd., Z. 1,60 und 87.
21 Ludwig Aschoff: Ein Gelehrtenleben in Briefen an die Familie, Freiburg 1966.
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Deutsches Tagebucharchiv e.V. Emmendingen, 2001/1., Z. 550-554.
23 Vgl. Christian Geinitz: Kriegsfurcht und Kampfbereitschaft, Essen 1998, S. 285f.
24 Deutsches Tagebucharchiv e.V. Emmendingen, 2001/1., Z. 518.
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