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Stunden liegen, schrieb Gorki an Freund Krjutschkow, dazu die obligatorischen vier Mahlzeiten
und verordneten Spaziergänge: Wann werde er da Zeit für literarisches Arbeiten haben?
Gorkis dichterische Produktion war unter der Fülle der organisatorischen Aufgaben in den
letzten Jahren fast vollständig zum Stillstand gekommen. Ein anderes Problem: Weihnachten
stand vor der Tür, es galt, Geschenke an den Chefarzt, die Bademeister und „Fräuleins" zu
kaufen, das würde wieder ins Geld gehen. Ein Freund in St. Petersburg wurde deshalb beauftragt
, Wertgegenstände zu verkaufen. Zwar hatte es das Moskauer Politbüro auf Veranlassung
Lenins übernommen, die Mittel für den Kuraufenthalt bereitzustellen, aber davon war einstweilen
noch nichts eingetroffen. Dagegen hatte das deutsche Außenministerium bereits das
Kreisamt St. Blasien angewiesen, Gorki während seines Aufenhalts im Schwarzwald jegliche
gesetzlich zugelassenen Vergünstigungen zukommen zu lassen. Rasch hatte sich Gorki einen
Überblick über die Verhältnisse im Kurort verschafft, bereits am 16. Dezember berichtete er:
Hier lebt auch Admiral Tirpitz, - na, wie ist das? Und ironisch fuhr er fort: Aber da es sehr
wenig Wasser hier in der Umgebung gibt, kommt er nicht in Versuchung, jemanden zu versenken
, sondern spaziert einfach zu Fuß auf den Wanderwegen, und, indem er die Bäche sehr
aufmerksam mustert, streicht er seinen preußischen Bart.9 Am gleichen Tag konfrontierte ihn
ein Brief aus Stuttgart mit der politischen Wirklichkeit: Irgendwelche Herrschaften drohen,
mir eine Kugel zu verpassen. Der Brief ist auf Deutsch geschrieben, aber er riecht buchstäblich
nach russischem Geist - gemeint waren die russischen Emigranten. Mit den örtlichen Verhältnissen
war Gorki zunächst durchaus zufrieden: Alles ist hier sehr schön, akkurat und solide
. Man erweitere gerade das Sanatorium, um weitere 500 oder 1.000 Patienten unterbringen
zu können. Die (wiederum an Lenin adressierte) Skizze des Sanatoriumalltags aus der Sicht
eines Patienten scheint mit ihrer Ironie Thomas Manns zwei Jahre später erscheinenden „Zauberberg
" vorwegzunehmen: Morgens kommt Professor Bacmeister zur Visite und fragt:
„Geht's gut?"- „Gut". Danach drückt er mir herzlich die Hand und verschwindet zum nächsten
. Vor ein paar Tagen hatte ich Bluthusten. „Gut?"- „Sehr gut!"- „Schön".10 Seine Meinung
über die Einheimischen hatte Gorki sich rasch gebildet: Die Schwarzwälder sind ein
ziemlich pfiffiges und verlogenes Völkchen. Immerhin: Wenn sie aber auf die Idee eines Bündnisses
mit Russland zu sprechen kommen, dann spürt man, daß da ein lebhaftes Interesse besteht
. Demnach ist selbst für die Massen ein derartiges Bündnis nicht unvorstellbar}1 Tatsächlich
wurde wenig später im April 1922, während der Kanzlerschaft von Josef Wirth, der Vertrag
von Rapallo geschlossen. Und weiter: Bleiben Sie gesund und schonen Sie sich. Vergessen
Sie nicht, dass der Russe ein Mensch ist, dessen Handlungsweise völlig unberechenbar ist - er
begeht eine Gemeinheit und wundert sich dann selbst: Wie konnte ich das bloß fertigbringen ?
Gorki meinte damit die Gefahr eines erneuten Attentats.12 Nach diesem Brief riss die Korrespondenz
zwischen Gorki und Lenin aus unerfindlichen Gründen ab. Im nächsten Jahr erlitt
Lenin seinen ersten Schlaganfall und starb 1924.
Am Heiligen Abend besuchten die beiden Kinder von Prof. Bacmeister den Dichter in seinem
Zimmer, überbrachten Geschenke und sagten ein ihnen beigebrachtes russisches „Fröhliche
Weihnachten" auf. Gorki, der glaubte, Russenkinder vor sich zu haben, reagierte mit einem
russischen Wortschwall, woraufhin die Kinder erschrocken abzogen.13
Claus-Peter Hilger: Vor 60 Jahren: Maxim Gorki 120 Tage in St. Blasien, in: Schwarzwälder Bote,
Weihnachtsausgabe von 1981.
Maxim Gorki: Polnoe sobranie socinenij Pism'a ijun' 1919-1921, Moskau 2007, S. 273.
10 Ebd,S.269.
11 Brief an Lenin vom 25. Dezember 1921, ebd., S. 272.
12 Lenin und Gorki. Eine Freundschaft in Dokumenten, hg. von Eva Kosing und Edel Mirowa-Flonn,
Berlin/Weimar 1974, S. 244.
13 Hilger (wie Anm. 8).
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