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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/schauinsland2013/0114
Die Anwesenheit des berühmten Dichters war für die St. Blasier Gesellschaft verständlicherweise
eine Sensation. Die örtliche Buchhandlung hatte eigens für ihn russische Zeitungen
und Illustrierte in ihr Angebot aufgenommen und das Schaufenster mit seinen Büchern dekoriert
. Gelegentlich ließ sich Gorki in einem wallenden roten Gewand auf dem Balkon seines
Zimmers sehen (Abb. 2). Im Übrigen legte er keinen Wert auf Publizität und rechnete es seinen
russischen Mitpatienten hoch an, dass sie Diskretion übten und zumindest so taten, als
hätten sie ihn nicht erkannt. Insbesondere lehnte er die Interviewbitten der ihn bestürmenden
Journalisten ab, denn sie verdrehen alles auf unerträgliche und boshafte Art.

Über das Winterwetter in St. Blasien staunte Gorki: Alles ist hier merkwürdig: Zuerst fällt
richtig guter Schnee, am nächsten Tag regnet es und spült uns alles wieder dahin. Heute ist ein
wunderbar frostiger Tag, -5 Grad. Und weiter: Die Tage sind kurz, und ich muß zwei Stunden
unbeweglich herumliegen, auch zum Spazierengehen werde ich gezwungen. Ich glaube nicht
an den schlechten Zustand meiner Lunge, ich denke, sie wird verleumdet: Die
Körpertemperatur ist stabil, und obwohl ich Blut huste, fühle ich mich wohl. Bacmeister ist
sehr liebenswürdig - und teuer: Zwar nicht meinem Herzen, aber meiner Brieftasche}5 Auf
einem seiner Spaziergänge beobachtete Gorki das Schlittenfahren: Wenn die Kinder der hier
lebenden französischen Familien zum Hügel kommen, gehen die deutschen Kinder
demonstrativ schweigend nach Hause. Wie der Oberlehrer der St. Blasier Schule erklärt,

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bringen die deutschen Eltern ihren Kindern bei, die Franzosen zu hassen. Die
Winterlandschaft beeindruckte ihn (8. Januar): Im Schnee rauschen die Bäche, mitten durch
die blendend weiße Talebene fließt die schwarze Alb, an einem Wasserfall haben sich riesige
Eiszapfen gebildet, auch der Architektur verleiht der Schnee ein eigentümliches Aussehen}1 Er
sah sich ein Skirennen an, das ihn aber nicht sonderlich beeindrucken konnte {ein wenig
langweilig), bemerkenswert schien ihm jedoch die Zähigkeit der Teilnehmer: Was sie leisten!
Ich werde nicht müde, darüber zu staunen. Gute Burschen! So wenig sympathisch ihm die
Deutschen waren, so sehr bewunderte er ihre Arbeitsfähigkeit: Ich schaue ihnen zu und denke
voller Erbitterung, voller Neid: Wenn man doch auch bei uns verstehen würde, so zu arbeiten.
Wäre das doch nur der Fall!1

Dass Gorki hingegen St. Blasiens Sehenswürdigkeit, den Dom, in seinen Briefen mit keinem
Wort erwähnte, mag mit seinem Atheismus zu erklären sein. Im Übrigen stellten
Kuppelkirchen für ihn nichts Besonderes dar, schließlich wies die St. Petersburger
(mittlerweile Petrograder) Silhouette eine ganze Anzahl dieses Bautyps auf.

Allmählich fing Gorki an, sich unter dem starren Ritual der Kurmaßnahmen zu langweilen,
auch wenn es ihm nicht an Besuchern fehlte. Es reisten Freunde und Bekannte an, unter anderen
Bucharin, damals Mitglied des Politbüros, mit dem Gorki auf gutem Fuß stand. Anscheinend
hatte er den Auftrag, Gorkis Äußerungen gegenüber der Presse zu überwachen (1936 ließ
ihn Stalin liquidieren). Außerdem traf Sinowi Alexejewitsch Peschkow ein, den Gorki 1899
adoptiert hatte.19 1914 hatte er sich zur französischen Fremdenlegion gemeldet und schrieb
jetzt nach seinem Besuch einen Bericht an den französischen Außenminister, in dem er Gorkis
aktuelle politische Meinung darstellte: Gorki zeichnet ein hoffnungsloses Bild von Russland,

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[...] er wartet darauf, dass das Schicksal die Bolschewiken zu Fall bringt. Peschkow wurde
später Oberst und war zu Beginn des 2. Weltkriegs bereits General, er stellte sich de Gaulle zur
Verfügung und wurde noch 1964 mit 80 Jahren von ihm als Berater und Delegationsleiter ein-

15 Ebd., S. 15.

16 Ebd., S. 12.

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Gorki fand es bemerkenswert, dass hier die Gewässer nicht ebenso zufrieren wie in Russland.

18 Gorki (wie Anm. 14), S. 21.

19 Berberova (wie Anm. 4), S. 17lf.

20 Kjetsaa (wie Anm. 1), S. 286f.

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