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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/schauinsland2013/0116
gezwungen werden müsste. Dann aber traten bei Gorki Herzbeschwerden in den Vordergrund
, mein altes, abgenutztes Herz läßt grüßen. Also musste die Kur verlängert werden -
eigentlich war geplant gewesen, bereits im März zurück nach Berlin zu reisen. Auch ein erneuter
Aufenthalt in Italien wurde erstmals erwogen. Gorkis Stimmung verdüsterte sich. Am 1.
März schrieb er: Es gibt hier keine Neuigkeiten außer neuen Leichen (ein kleiner und gemütlicher
Friedhof lag gleich gegenüber den Sanatoriumsfenstern, wo die verstorbenen Patienten

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an Sonn- und Feiertagen begraben wurden).

In einer seiner Erzählungen aus dieser Zeit („Dora") schilderte Gorki eine (allerdings auf der
Krim lokalisierte) Pension für „Phtisiker", wie man die Schwindsüchtigen damals auch nannte.
Darin charakterisierte er die Tuberkulose als eine Krankheit, die tötet und gleichzeitig
Lebensdurst anstachelt, wie das Übermaß an Erotik beweist, von der die Phtise begleitet

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wird. Und in dem Spätwerk „Klim Samgin" zeichnete er in der Gestalt der jungen,
liebesdurstigen Netschajeva das Porträt einer „Phtisikerin": ihr armseliger dürrer Körper [...]
ihre unnaürlich heiße Hand [...] ihr trockenes Hüsteln [...] die roten Flecken auf ihren
Wangen glühten noch greller, unter ihren Augen lagen Schatten, die ihre Backenknochen

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spitzer erscheinen ließen und dem Blick einen fast unerträglichen Glanz verliehen [...].

Der März brachte Gorki an die Grenzen seiner Geduld: Es wird langsam unerträglich, hier
zu leben: Seit gestern hat man [im Rahmen der Erweiterung des Sanatoriums] noch eine Steinbrechmaschine
aufgestellt. Stell Dir vor: Schnee, Feuchte und Kälte, eine Rundsäge, eine
Steinklopfmaschine, Dynamitexplosionen. Und eine Unzahl an Rechnungen für all das! Ich
habe wieder an Gewicht verloren [eines der Hauptsymptome der aktiven Tuberkulose], Bac-

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meister meint, ich solle bis Mai bleiben, aber das kann ich nicht. Als Gorki am 19. März von
einem Freiburger Filmteam ohne seine vorherige Erlaubnis aufgenommen wurde, beschwerte
er sich beim Bezirksamt St. Blasien. Hierauf kam Ende März von „Express-Film", Freiburg
und der Redaktion von „Der Tag im Film" die schriftliche Bitte, einen Dokumentarfilm, jetzt

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mit seiner Genehmigung, drehen zu dürfen. Uber Gorkis Reaktion und das Schicksal der bereits
gedrehten Filmrollen ist nichts bekannt.

Im gleichen Monat erschien in Berlin die Broschüre „Russland und die Welt", mit der Maxim
Gorki und Frithjof Nansen noch einmal an die Welt appellierten, dem hungernden Russland
Hilfe zu leisten. Gorkis Beitrag „Wenn Europa sich nicht besinnt" ist ähnlich wie jener in

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der Festschrift der Frankfurter Goethewoche von düsterer Grundstimmung gekennzeichnet.
Er zeichnet darin ein abstoßendes Bild des westlichen Europa: Mir scheint, daß sein Herz verblendet
, abgestumpft ist und sein Hirn verwesend sich in grünen Schaum verwandelt und alles
das mit seinem Gift bespritzt, was früher für human, für Menschenpflicht gegolten hat. Kraft
der aufgespeicherten Menge an Habgier, Neid, Böswilligkeit und Rache werde das Ende Europas
durch äußeren Druck und eine ms innerer Anarchie geborene Explosion herbeigeführt
werden. Ein Bitten oder Werben, wie es der eigentlichen Absicht des Aufrufs entsprochen hätte
, war das nicht gerade; statt dessen ein Drohen in jenem groben Tonfall, den Gorki in seinen
polemischen Äußerungen anschlagen konnte.

Maxim jr. hatte keine Berufsausbildung und war, abgesehen von kurzzeitiger Tätigkeit für die
Sowjetregierung, ausschließlich Assistent seines Vaters.

Demnach war von Bacmeister die restriktive Aufnahmepraxis seines Vorgängers wieder rückgängig
gemacht worden.

Maxim Gorki: Erlebnisse und Begegnungen, Berlin 1926, S. 260. Thomas Mann thematisierte die
Affinität von Tuberkulose und Sexualität wenig später im „Zauberberg".
Maxim Gorki: Klim Samgin, Bd. 1, München 1980, S. 200ff.
Gorki (wie Anm. 14), S. 40.
Hilger (wie Anm. 8).

Maxim Gorki: Wenn Europa sich nicht besinnt, in: Russland und die Welt, Berlin 1922, S. 28f.

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