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Im Norden
Gründe für die Abreise am 11. April gab es genug: die hohen Behandlungskosten des Sanatoriums
, die unerträgliche Langweile des Kurregimes32 und die weite Entfernung vom pulsierenden
kulturellen Geschehen. In Berlin zerrann jedoch die im Schwarzwald gewonnene Besserung
rasch, dafür genoss Maxim jr. endlich wieder die Vergnügungen der Metropole. Am 15.
Mai schrieb Gorki an seinen Freund, den Sänger Schaljapin: Der Schwarzwald hat mir nicht
geholfen. Erneut hatte sich Bluthusten eingestellt. Wieder untersuchte ihn Professor Kraus und
stellte eine schwere Herzerkrankung fest, deren erfolgreiche Behandlung Vorbedingung für
eine Besserung der Tuberkulose sei. Nun bezog Gorki eine Villa in Heringsdorf an der Ostsee.
Vielleicht spielte dabei die Nähe des Orts zur Heimat eine Rolle, denn Gorki hielt es immer
noch für möglich, demnächst wieder nach Russland zurückkehren zu können. Aber aus Moskau
kamen irritierende Nachrichten. Mitgliedern der Sozialrevolutionären Partei war der Pro-
zess gemacht worden, ihnen drohte die Todesstrafe. Gorki wandte sich deshalb in scharfer
Form an Innenminister Rykow und erreichte immerhin, dass die Strafe auf Bewährung ausgesetzt
wurde. Als dann noch im Herbst zahlreiche Intellektuelle aus der Sowjetunion ausgewiesen
wurden, gab Gorki seine Pläne für eine Heimreise auf. Er lebte nun bis zum Sommer 1923
in einem Sanatorium in Bad Saarow, einige Stunden von Berlin entfernt und von den Freunden
in der Hauptstadt leicht per Zug zu erreichen. Nina Berberova wohnte mit ihrem Mann, dem
Dichter Chodassewitsch um diese Zeit ebenfalls in Bad Saarow, sie schildert in ihrer Autobio-
grafie, wie hier an den Sonntagen die Atmosphäre der riesengroßen, gastfreundlichen Peters-
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burger Wohnung Gorkis wiedererstand. Gorkis Lebensumstände hatten sich seit dem Aufenthalt
in St. Blasien entscheidend geändert: Marija Ignatjewna, seine Sekretärin in Petrograd,
eine schillernde Figur, der unter anderem eine Agententätigkeit für verschiedene Geheimdienste
nachgesagt wurde, war durch eine Heirat Anfang 1922 zur Baronin Budberg geworden. Bereits
in Heringsdorf hatte sie die Stelle der Hausfrau bei Gorki eingenommen, und seither bestand
eine Art Balance zwischen ihr als Lebensgefährtin und den beiden bisherigen Frauen
Gorkis, Jekaterina Pawlowna und Marija Andrejewa, die auch in Zukunft gelegentlich, jedoch
abwechselnd anzureisen pflegten.
In Günterstal
Im Sommer 1923 machte sich die Lungenerkrankung erneut mit Bluthusten bemerkbar, Prof.
Kraus empfahl eine weitere Kur im Schwarzwald. Noch einmal nach St. Blasien zu fahren,
erschien Gorki als Zumutung. Stattdessen wählte er zum Aufenthaltsort Günterstal bei
Freiburg, das bisher noch nie als Kurort für Tuberkulosekranke hervorgetreten war.
Entscheidend für die Ortswahl war vermutlich die Sympathie zur Universitätsstadt, die ihn
1921 zu einem Vortrag über Russland und die russische Literatur eingeladen hatte und wo
damals ein „Akademisches Hilfskomitee für das hungernde Russland" gegründet worden
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war.
Gorki und „Moura" Budberg nahmen Anfang Juni 1923 zunächst Quartier im Hotel Kyburg,
Gorki (wie Anm. 14), S. 48: Ich verbrachte drei Monate im Schwarzwald, in einer langweiligen Grube
mitten in den Bergen, die bis aufs Äußerste mit Tuberkulosen vollgestopft war.
Nina Berberova: Ich komme aus St. Petersburg, Düsseldorf 1990, S. 212.
Antonin Mestan: Friburgum slavicum, in: Schau-ins-Land 102 (1983), S. 39-46, hier S. 43f. Gorkis
Briefe geben keinerlei Hinweis darauf, dass der Vortrag tatsächlich gehalten wurde. Auch in der
„Freiburger Zeitung" findet sich keine Erwähnung.
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