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men gegenüber. Zwar kann er die Beschlagnahme nicht abwenden, aber es gelingt ihm, die
wertvollen Bestände vor einer Verschleuderung zu retten und sie in ihrer Gesamtheit dem DVA
zuzuführen. Lotte Meyer ist glücklich darüber: Frl. Meyer hat auch ihren Dank dafür ausgesprochen
und nicht nur Dr. Seemann, sondern auch einer Bekannten [Frau Prof. Dragendorff]
gegenüber ihre Freude geäußert, dass, wenn die Beschlagnahme nicht abzuwenden sei, ihre
Bücher wenigstens dem VA zugute kämen und dort Nutzen stifteten.
So vermeldet das Zugangsbuch der Archivbibliothek des DVA mit dem Datum des folgenden
Tages 62 Liederbücher namentlich unter der Nummer 1820 bis 1881. Der Eintrag ist mit
dem Vermerk durch die Geheime Staatspolizei bei Frl. Lotte Meyer beschlagnahmt und ans
Archiv abgegeben gekennzeichnet. Aber Seemann kann in gleicher Mission noch andere, weitaus
wertvollere Materialien aus ihrem Besitz vor der Gestapo retten und dem Archiv sichern.
Es sind erstschriftliche Erträge der eigenen Forschungstätigkeit Lotte Meyers, auf deren Entstehung
wir unseren Blick lenken wollen.
Lotte Meyer wurde am 17. Oktober 1876 in Chur geboren. Die Familie zog im Jahre 1889
von Berlin nach Braunschweig, wo Vater Richard Meyer eine Professur für Chemie an der TH
innehatte. Wie in gebildeten Kreisen häufig, verbrachte man die gemeinsamen Ferien gerne in
den Schweizer Bergen mit kulturellen Abstechern in die großen Städte, und Lotte teilte mit den
Eltern die Liebe zu diesem Land, vor allem zum ostschweizerischen Kanton Graubünden. Sie
war fasziniert von der Vielfalt des eidgenössischen Volksliedgutes. Reisen nach Russland,
Dänemark und in die Niederlande zwischen 1902 und 1915 waren vom Interesse am dortigen
Liedgut geleitet; und mit den Jahren erstreckte sich ihre Sammelleidenschaft auf weitere 12
Länder, aus welchen sie Liedalben zusammentragen sowie Texte und Melodien miteinander
vergleichen konnte.
Im Juli 1913 treffen sich Lotte Meyer und die Baslerin Lina von Schröder zur Fahrt nach
Graubünden. Gemeinsam unternehmen sie eine Feldforschungsreise ins dortige Prättigau. Im
dörflichen Umfeld der Gemeinden Seewies, Schiers und Grüsch sammelnd, zeichnen sie Texte
und Melodien von Liedern auf, die ihnen von der einheimischen Bevölkerung vorgetragen
werden (Abb. 1). Innerhalb von zwei Monaten tragen sie 158 Lieder zusammen und versehen
sie mit den Etiketten Gewährsperson, Ort und Datum als den notwendigen Herkunftsmerkmalen
. Es ist eine sehr intensive, oft mühevolle Arbeit: so bieten die Eigenheiten der dialektalen
Lautgestalt oder die Aufteilung der Silben zur Melodie immer wieder Spielraum für verschiedene
Interpretationen. Oder ein anderes Problem: Es ist ja überhaupt eine eigene Sache mit
dem „treuen" Nachschreiben! Wenn man Sinn für Gewissenhaftigkeit hat [...], so neigt man
leicht dazu „katholischer als der Pabst" sein zu wollen. So bin ich etliche Male „zur Sicherheit
" noch einmal zum Kontrollieren zu Frl. Eva Tausch oder M. Sprecher in Seewis gelaufen,
- und siehe da, sie sangen plötzlich einen anderen Schluß oder dergl. Auf meine verdutzte Frage
, wieso sie denn neulich so gesungen hatten wie meine Notiz lautete, entgegneten sie gemütlich
: „Jo, öppen amol singan mir aso, u. öppen amol aso, - wies grad kummt? Trotz der Be-
7 Ebd.
o
Wesentliche Informationen verdanke ich Barbara Boock, Bibliothekarin im DVA. Sie hat seit 2001 im
Rahmen einer personenbezogenen Recherche zahlreiche ergänzende Dokumente zu Lotte Meyer zusammengetragen
. Zu den Biografien: StAF, F 196/2-317 (Meyer, Lotte). Desgl. Manuela Müller: Leben im
Denkmal. 14 Portraits moderner Menschen in historischen Häusern, Freiburg 2005, S. 78ff; Karin-Anne
Böttcher: Auf Spurensuche im Volksliedarchiv, in: Badische Zeitung vom 15. Januar 2002.
Lotte Meyer in einem Brief an Prof. Hoffmann-Krayer, 1906 Gründungsmitglied des SVA. Zitiert nach
Barbara Boock: Die Volksliedsammlung von Lotte Meyer im Prättigau 1913, in: Regionalität in der musikalischen
Popularkultur. Tagungsbericht Hachenburg 2006 der Kommission zur Erforschung musikalischer
Volkskulturen in der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde e.V., hg. von Gisela Probst-Effah
(Berichte aus der Musikwissenschaft), Aachen 2009, S. 255-269, hier S. 257.
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