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Raumes fassbar werdend Mit anderen Worten: Es geht nicht um eine Aneinanderreihung einer
Vielzahl von Aspekten, in denen sich der Leser verliert, sondern darum, dass sich in der Vielfalt
das Besondere, auch die Atmosphäre und die Ausstrahlung des Ortes, der Stadt oder der
Region herausschälen.26
Dafür sorgt auch der einheitliche Ausgangspunkt: der Mensch als Akteur in der Geschichte,
seine Lebenswelt und kulturelle Praxis. Dieser ist wichtig, um nicht wieder in die schematischen
Schubladen „Wirtschaft, Gesellschaft, Politik, Verfassung, Kultur, Alltag" zu verfallen.
Beispielsweise kann ein Kapitel mit der Beschreibung einer Lebenswelt, einer Biografie oder
einem besonderen Ereignis beginnen, um daraus dann strukturelle Elemente zu entfalten, die
mit den vorgestellten Akteuren in Wechselbeziehung stehen. Auf diese Weise können auch
besser als durch abgehobene Beschreibungen die Vielfalt des menschlichen Zusammenlebens,
Migrationsvorgänge, Milieus, Lebensstile, Gewohnheiten, Konflikte, gewaltsame Auseinan-
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dersetzungen, insgesamt Ordnungen und Unordnungen analysiert werden. Sinnvoll erscheinen
dabei Forschungen mit dem „ethnografischen Blick" - immer in historischen Zusammenhängen
- auf kulturelle Topografien wie Bilder, Erinnerungen, Identifikationen, Mythen, Topoi
und andere räumlich gebundene kulturelle Produkte, auf Kneipen, nachbarschaftliche Beziehungen
, Straßenkultur, Elends- wie Oberschichtviertel, Jugendcliquen, Gefängnisse, psychiatrische
Anstalten, Verkehrsmittel und ähnliche Erfahrungsräume, um das „außergewöhnliche
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Normale" im Leben der Menschen „von innen" kennen zu lernen.
Über die Abwägung von Denk- und Handlungsweisen der Akteure wird es schließlich auch
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leichter möglich, sich schwierigen Zusammenhängen der eigenen Geschichte zu stellen. Um
einzelne Fallanalysen und Themen miteinander zu verbinden, haben sich Darstellungen von
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Stadtspaziergängen und „Orten der Erinnerung" bewährt. Mit dem Akteur als Ausgangs- und
Mittelpunkt kann der Leser nicht zuletzt einen Bezug zu sich selber schaffen. Dabei geht es
nicht darum, über eine lokale Sinngebung die nationale Identität zu vermitteln, wie es früher
Vgl. Rolf Lindner: Offenheit - Vielfalt - Gestalt. Die Stadt als kultureller Raum, in: Handbuch der Kulturwissenschaften
. Themen und Tendenzen, Bd. 3, hg. von Friedrich Jaeger und Jörn Rüsen, Stuttgart
/Weimar 2004, S. 385-398, Zitate S. 388 und 395. Lindner regt auch an, Klang- und Geruchslandschaften
, insgesamt die sinnlichen Erfahrungen, in die Betrachtung einzubeziehen (S. 393-395). Zur „Kategorie
Möglichkeit" siehe Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1985, S. 235-242; vgl.
Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 1.2, hg. von
Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M. 1974, S. 691-704.
Dazu gehört, unterschiedliche Erinnerungen und Identifikationsperspektiven herauszuarbeiten, vgl.
Rudolf Jaworski: Die Städte Ostmitteleuropas als Speicher des kollektiven Gedächtnisses, in: Imaginationen
des Urbanen. Konzeption, Reflexion und Fiktion von Stadt in Mittel- und Osteuropa, hg. von Arnold
Bartetzky u. a., Berlin 2009, S. 19-31, insb. S. 25-29.
Vgl. die Forderungen bei Lenger (wie Anm. 24), S. 366-376.
Dazu Rolf Lindner: Walks on the Wild Side. Eine Geschichte der Stadtforschung, Frankfurt a.M./New
York 2004; Ders.: Perspektiven der Stadtethnologie, in: Historische Anthropologie 5 (1997), H. 2, S. 319-
328. Vgl. auch das Themenheft „Überleben in der Großstadt", in: ebd. 18 (2010), H. 3. Als Beispiel für die
Betrachtung eines psychiatrischen Falles im Zusammenhang der Stadtgeschichte: Paranoia City. Der Fall
Ernst B. Selbstzeugnis und Akten aus der Psychiatrie um 1900, hg. von Stefan Nellen, Martin
Schaffner und Martin Stingelin, Basel 2007. Mustergültig zur Analyse kultureller Topografien: Julia
Richers: Jüdisches Budapest. Kulturelle Topographien einer Stadtgemeinde im 19. Jahrhundert (Lebenswelten
osteuropäischer Juden 12), Köln/Weimar/Wien 2009. Zum „außergewöhnlich Normalen" siehe
Eduardo Grendi: Micro-analisi e storia sociale, in: Quaderni Storici 35 (1977), S. 506-520, hier S. 512.
Vgl. Monica Rüthers: Gehört ein Gattenmord in die Geschichte eines Bergdorfes? Probleme und Chancen
der modernen Ortsgeschichtsschreibung, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 55 (2005), S.
401-418.
Ein jüngst erschienenes Beispiel: Marburg rauf und runter. Stadtspaziergänge durch Geschichte und Gegenwart
, hg. vom Rosa-Luxemburg-Club Marburg, Marburg 2013. Vgl. auch: Orte der Erinnerung (Anm.
17).
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