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Das Hauptinteresse Haumanns liegt nicht nur auf Umwälzungen, auf dramatischen Situationen.
Er will vor allem die Handlungsspielräume und Alternativen der Menschen erkennen. So wurden
die Lebenswelten russischer Bauern durch die bolschewistische Agrarpolitik zwar vernichtet (L: S.
202ff.), aber erst nach der Kollektivierung der Landwirtschaft war der Traum von einer neuen freien
Gesellschaft und einer Bauern-Demokratie ausgeträumt. Terror, Zwang und Repressionen verhinderten
jegliche Alternative und ließen den Betroffenen keinen Handlungsspielraum. Durch den
mikrohistorischen Ansatz treten die Folgen der politischen Umwälzungen deutlicher zutage.
In diesem Band befinden sich die meisten Beiträge zur jüdischen Bevölkerung, ihrem Alltag,
ihren Wertvorstellungen und Normen sowie ihrem Schicksal unter dem jeweiligen politischen Regime
. Der Zwiespalt zwischen Anpassung und Suche nach neuen Wegen zeigt sich in der Bildung
politisch-religiöser Gruppierungen wie dem Zionismus, dessen Anhänger später in Israel leichter zu
einer neuen Identität fanden.
Im Lesebuch „Schicksale" zeigt sich die Vielseitigkeit Haumanns erneut. Ob es sich um Hirtenbuben
und Waldarbeiter im Elztal handelt, wo er seinen Wohnort hat, um politische Willkür in
Russland oder um Lebenswege einzelner Juden - immer analysiert er das Geschehen, deckt Hintergründe
auf und versucht, die Handlungsmöglichkeiten der Menschen herauszufiltern. Die von ihm
geschilderten Schicksale fesseln den Leser, ob es um die Geschichte der deutsch-russischen Familie
Dmitrewski (Sch: S. 242ff.) oder um das Entstehen einer bäuerlichen Arbeiterschaft im Zarenreich
(Sch: S. 95) geht. Zwei ganz unterschiedliche Aufsätze seien herausgegriffen: „Hermann Diamanski
" und „Deutsch-französische Frontkämpfertreffen 1937-1938". Minutiös schildert Haumann
den Ablauf des Frontkämpfertreffens in Freiburg 1937, der die beabsichtigte und militärisch aufgezogene
Inszenierung der Nazis vergegenwärtigt (Sch: S. 55). Die deutsche Bevölkerung wird ebenso
indoktriniert wie die französische; beiden wollte man weismachen, dass die NSDAP nichts anderes
als Frieden will. Auch der spätere Gegenbesuch in Besangon stand unter dem Motto Friede statt
Krieg. Nach dem „Anschluss" Österreichs überwogen jedoch bei den Franzosen „Unruhe und
Mißtrauen" in Bezug auf die deutsch-französische Versöhnung. Am 10. November 1938, dem Tag
der ebenfalls inszenierten „Reichskristallnacht", offenbarte dann Hitler der Presse, dass ihn die
„Umstände" gezwungen hätten, jahrzehntelang nur vom Frieden zu reden (Sch: S. 66). Die Wogen
glätteten sich nochmals nach dem Münchner Abkommen, weitere Treffen wurden geplant. Als jedoch
im Frühjahr 1939 die Rest-Tschechoslowakei von der deutschen Wehrmacht besetzt wurde,
wussten auch die französischen Frontkämpfer-Verbände, dass es zum Krieg kommen würde. Sowohl
die deutsche Bevölkerung als auch der spätere Kriegsgegner Frankreich wurden getäuscht
und instrumentalisiert.
Wesentlich schwieriger ließ sich die Handlungsweise von Hermann Damianski durchschauen,
dessen Selbstzeugnisse einen komplexen Umgang mit Erinnerung erforderten (Sch: S. 318ff.). Diese
schillernde Persönlichkeit - er arbeitete als Spitzel für beide Seiten - setzte sich selbstlos für
Juden und „Zigeuner" ein, versorgte sie mit zusätzlichen Nahrungsmitteln und rettete einige vor der
Gaskammer wie seinen Mithäftling Spindler. Wie schwierig es für den Historiker in diesem Fall
war, aus Damianskis Erinnerungen dessen Lebenswirklichkeit herauszufiltern, zeigen die vielen
Archive, in denen Heiko Haumann nach Spuren suchte, wie auch die zahllosen eingesehenen Dokumente
und die Interviews mit Überlebenden. Erschwerend bei der Spurensuche erwiesen sich das
Fehlen schriftlicher Lebenserinnerungen Damianskis sowie sein wohl vorhandener Gedächtnisverlust
aufgrund der Haftbedingungen. Sein Lebensweg sei kurz skizziert. Er wurde 1909 in Danzig
geboren und starb 1976 in Frankfurt. Nach Beendigung der Schule fuhr er zur See, war Mitglied
der Kommunistischen Partei und musste deshalb in der NS-Zeit nach England emigrieren. Danach
kämpfte er im Spanischen Bürgerkrieg, floh nach Belgien, Frankreich und schließlich wieder zurück
nach Spanien, wo ihn die Gestapo aufgriff. Die Jahre von 1942-45 verbrachte er als Häftling
in Auschwitz, bis er von den US-Truppen befreit wurde. 1947 begann er seine Laufbahn in Ostdeutschland
, wechselte mehrfach den Beruf und musste schließlich 1953 nach Westdeutschland
fliehen. Spätestens zu diesem Zeitpunkt arbeitete er für den amerikanischen Geheimdienst. 1964
hielt es der DDR-Staatssicherheitsdienst für möglich, dass Damianski aufgrund seiner Vorzugsstellung
in den Lagern bereits als Spitzel gegen andere Häftlinge tätig gewesen war.
Anhand dieser Lebensgeschichte empfiehlt Haumann, Selbstzeugnisse immer zu überprüfen, da
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