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Robert Neisen: Zwischen Fanatismus und Distanz - Lörrach und der Nationalsozialismus, hg.
von der Stadt Lörrach, Stadtarchiv Lörrach, Bötzingen 2013, 280 S., zahlr. Abb.
Historische Veröffentlichungen werden häufig durch erregte politische Debatten angestoßen. So ist
auch Robert Neisens Buch entstanden.
Zum Nationalsozialismus und zur Kriegszeit in Lörrach waren zwar bereits einige Veröffentlichungen
erschienen, als Beispiele seien hier Hugo Ott (1983), Wolfgang Göckel (1990) und Markus
Moehring (1989) genannt. Vor kurzem wurde im Lörracher Stadtarchiv eine ungewöhnliche
Fotoserie entdeckt, die ein unbekannter Fotograf, vermutlich ein Polizist, über den Abtransport der
Lörracher Juden im Oktober 1940 ins Lager Gurs gemacht hatte. Die Veröffentlichung durch A.
Nachama und K. Hesse (2011) hatte große Aufmerksamkeit erregt.
Die Diskussion über den Nationalsozialismus in Lörrach zielte besonders auf die Person des NS-
Bürgermeisters und Kreisleiters Reinhard Boos (1897-1979). Die Frage, ob sein Bild in die Galerie
der Lörracher Stadtoberhäupter aufgenommen werden sollte, erhitzte die Gemüter. Daraufhin be-
schloss der Gemeinderat, die NS-Zeit erneut gründlich aufzuarbeiten und erteilte Robert Neisen
den Auftrag.
Somit war klar, dass die Persönlichkeit des umstrittenen Bürgermeisters im Mittelpunkt der Untersuchung
stehen würde. Anhand der Quellen sollte geprüft werden, ob Boos wirklich jener vernünftige
und menschliche Nationalsozialist gewesen war, als der er sich nach dem Krieg darstellte.
Wie jedoch der Titel zeigt, hat Neisen der Versuchung widerstanden, eine historische Biografie
dieser umstrittenen Persönlichkeit zu schreiben. Ohne Zweifel wäre dies ein sehr reizvolles Thema
gewesen. Die Verbindung zwischen politischer und privater Lebensgeschichte hätte ein aufschlussreiches
Bild eines lokalen NS-Führers ergeben. Gerade die lokalen NS-Offiziellen, die für die
Funktionsfähigkeit und Akzeptanz des nationalsozialistischen Systems vor Ort äußerst wichtig waren
, haben bisher in ihrer biografischen Prägung nicht genügend das Interesse der Forschung gefunden
, die sich bevorzugt auf die Größen des Systems konzentrierte.
Stattdessen beschreibt Neisen in einer breit angelegten Darstellung das Funktionieren des NS-
Herrschaftssystems am Fallbeispiel Lörrach, einer kleinen Industriestadt mit rund 20.000 Einwohnern
. Durch diesen Ansatz wird eine zu starke Fokussierung auf die Person des Bürgermeisters und
Kreisleiters vermieden. Es wird auch deutlich, dass das Herrschaftssystem des Nationalsozialismus
in Lörrach nicht nur mit der Person des Bürgermeisters verknüpft war, sondern durch zahlreiche
weitere Akteure bestimmt wurde.
Der Autor entwickelt seine Darstellung in chronologischer Abfolge in fünf ausführlichen Kapiteln
. Dabei bringt er immer wieder knappe Verweise auf die allgemeine Geschichte, was besonders
Lesern entgegenkommt, die keine vertieften Kenntnisse jener Epoche besitzen.
Das erste Kapitel umfasst den Zeitraum vor dem Ersten Weltkrieg bis zur Machtergreifung 1933.
Hier entstand bereits die für die Industriestadt Lörrach typische Spaltung in eine zahlreiche, oft
radikale Arbeiterschaft und verschiedene bürgerliche Gruppen, die im Zentrum und bei den
Deutschnationalen verankert waren. Die Krisenzeiten der Weimarer Republik trafen Lörrach besonders
hart und vertieften die Gräben zwischen den Gruppen. Aber die Ortsgruppe der NSDAP
blieb lange Zeit bedeutungslos und konnte davon nicht profitieren. Erst ab 1930, als der energische
Boos die Führung übernommen hatte, erfolgte ein schneller Aufschwung. 1932 erhielt sie die meisten
Wählerstimmen (34,9 %) und überrundete die KPD (23,9 %).
Die Phase der Machtergreifung und Gleichschaltung (Kapitel 2) verlief ähnlich wie in anderen
Städten. Boos wurde zuerst als Kommissar eingesetzt, bevor er durch „Wahl4' das Bürgermeisteramt
übernahm und die Stadtverwaltung „säuberte".
Im folgenden dritten Kapitel „Nationalsozialismus in der Praxis: Die Politik von Boos in den
Jahren 1933-194144 findet nun Boos' Kommunalpolitik eine breite Darstellung. Dabei musste er
schnell die Erfahrung machen, dass sich die politische Praxis meist als mühevoll erwies und wenig
Erfolge brachte. Die finanzielle und wirtschaftliche Lage der Stadt blieb weiterhin katastrophal und
besserte sich nur langsam. Auch der Abbau der Arbeitslosigkeit blieb hinter dem Reichsdurch-
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