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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/schauinsland2013/0184
schnitt zurück. Sein hektischer Aktionismus und seine Radikalität mussten häufig von den vorgesetzten
Behörden gebremst werden, denn das Regime legte offenbar Wert darauf, die Bevölkerung
nicht zu vergraulen. Zudem herrschten unter Boos Korruption und Vetternwirtschaft, was bei der
Bevölkerung nicht gut ankam. Auch sein persönliches Bild schwankt stark. Er war streitsüchtig und
überzog seine Gegner mit Prozessen. Obwohl radikaler Antisemit, schützte er andererseits eine
jüdische Mitbürgerin, eine Schulkameradin; ebenso scheint er selbst nicht aktiv an der Synagogenzerstörung
teilgenommen zu haben.

Auf die Rolle der NSDAP-Ortsgruppe geht Neisen nicht explizit ein, doch an einzelnen Stellen
tauchen auch die Leute neben Boos auf. Neben den Ausführungen zu ihrem Mitgliederprofil (S. 39)
werden auch andere Belege gebracht, die zeigen (so z.B. S. 170, 171 und 183), dass es neben dem
Bürgermeister auch einige andere NS-Persönlichkeiten gab, die sich als kleine „Boos" aufführten.
Offen bleibt auch das Verhältnis von Boos zu seiner Ortsgruppe. Wie standen die Parteimitglieder
hinter ihrem Leiter?

In diesem umfangreichen Kapitel spricht der Autor weitere interessante Aspekte nationalsozialistischer
Herrschaft an (Zwangsarbeiter, Verfolgung von Randgruppen, Verhältnis zur Schweiz usw.),
die bisher weniger beachtet worden waren.

Im vierten Kapitel „Zustimmung, Verfolgung, Distanz: Die Volksgemeinschaft in Lörrach" versucht
sich der Autor an einem schwierigen Thema. Wie lässt sich die Haltung der Lörracher Bevölkerung
, der „Volksgemeinschaft", beschreiben und einschätzen? Neisen betont ihre Heterogenität -
eine starke Arbeiterschaft, die ursprünglich der SPD und KPD angehört hatte, ein liberalkonservatives
gehobenes Bürgertum - und kommt zur Einschätzung, dass das System zahlreiche
innere Bruchlinien aufgewiesen habe und die Bevölkerung zunehmend auf innere Distanz gegangen
sei. Für diese Einschätzung scheint dem Rezensenten jedoch die benutzte Materialgrundlage zu
schmal. Die Vorgänge besonders am Kriegsende zeigen, dass in der Bevölkerung trotz Desillusio-
nierung und Enttäuschung die Strukturen und Mentalitäten des Nationalsozialismus wirksam blieben
und die Treue zur Führung nicht in Frage gestellt wurde. Diese Feststellung zu den Lörracher
Verhältnissen würde sich weitgehend mit den Befunden decken, die der britische Historiker Ker-
shaw in seinem neuen Buch über das Ende des „Dritten Reiches" herausgearbeitet hat.

Hier ist anzumerken, dass in diesem Zusammenhang ein wichtiger Aspekt der NS-Herrschaft in
Lörrach fehlt. Lörrach war auch Sitz einer Gestapo-Dienststelle - die brutale Ermordung mehrerer
Fremdarbeiter und Häftlinge am Kriegsende wird ausführlich geschildert. Interessant wären hier
die Lageberichte der Gestapo bzw. des SD zur Stimmung der Bevölkerung. Leider sind z.Z. nur
einzelne bis 1935 bekannt, denn die Gestapo wie die NSDAP-Ortsgruppe hatten ihre Akten vor
dem Einmarsch der Franzosen vernichtet. Wenn hier noch neue Quellenfunde auftauchen würden,
könnte dies das Bild der Lörracher „Volksgemeinschaft" möglicherweise präzisieren. Neben dem
staatlichen Repressionsapparat blühte in der Stadt ein Denunziantentum, das der personell unterbesetzten
Gestapo ihre Arbeit erleichterte.

Das letzte Kapitel schließt mit den Ereignissen in Lörrach während des Zweiten Weltkriegs.
Nach einem Überblick über die zunehmenden Schwierigkeiten, die das Kriegsgeschehen auch für
die Stadt brachte, geht Neisen auf die Ereignisse am Kriegsende ein. Hier widerlegt er die Legende,
die kampflose Übergabe der Stadt an die heranrückenden Franzosen, um sinnloses Blutvergießen
zu vermeiden, sei Boos' Verdienst gewesen. Wie die Quellen zeigen, war er im Gegenteil entschlossen
, mit einem Volks Sturmaufgebot einen aussichtslosen Kampf zu führen. Erst als er nach
kurzem, schwerem Kampf an der Lücke verletzt wurde, kapitulierte er.

Fazit: Ein gutes Buch! Ein wichtiges Buch, das die bisherigen Erkenntnisse erweitert und wissenschaftlich
vertieft! Der Autor scheut nicht vor klaren Bewertungen zurück, dabei bleibt seine
Darstellung immer ausgewogen und differenzierend; auch der Handlungsspielraum der Beteiligten
wird beachtet. So wird ein beeindruckendes Bild der NS-Herrschaft in einer kleinen Stadt entworfen
. Doch damit ist in Lörrach das Thema „Nationalsozialismus" nicht abgeschlossen, sondern das
Buch lässt weitere ertragreiche Forschungsfelder erkennen, die es noch zu bearbeiten gilt, z.B. wie
die Entnazifierung in der Stadt verlaufen ist. Willy Schulze

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