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Doch nun wieder zurück zur politischen und gesellschaftlichen Großwetterlage im Jahr 1912.
Der letzte Krieg ■ der deutsch-französische Krieg von 1870/71 - lag mit gut vier Jahrzehnten
für hiesige Verhältnisse schon lang zurück; dass in zwei Jahren, 1914, der Erste Weltkrieg ausbrechen
würde, ahnte wohl noch niemand. Davon, dass weit- oder europapolitisch friedliche
Zeiten geherrscht hätten, kann freilich keine Rede sein. Rund um den 13. Oktober 1912 sind
die Zeitungen voll von Meldungen über die angespannte Lage auf dem Balkan, wo gerade der
sogenannte „Erste Balkankrieg" begonnen hatte, wobei die Kommentatoren - zu Recht - sicher
waren, dass sich schon bald neben der Türkei und Montenegro auch Bulgarien und Serbien,
Griechenland und Italien beteiligen würden. Die übrigen europäischen Staaten rüsteten um die
Wette, und die Behauptung, dass in Deutschland schon jahrzehntelang Frieden herrschte, stimmt
auch nur, wenn man den Blick auf das eigentliche deutsche Staatsgebiet beschränkt: In seinen
Kolonien in Südwestafrika hatte das Deutsche Reich erst wenige Jahre zuvor auf äußerst brutale
Weise Aufstände der einheimischen Bevölkerung niedergeschlagen.
Dafür, dass die weltpolitische Großwetterlage Auswirkungen auf die Gemeinde Ehrenstetten
und ihren Kirchenbau gehabt hätte, konnte ich allerdings in den Akten keine Hinweise finden. Also
wäre es vielleicht kein Fehler, die Perspektive etwas zu verengen und Baden und das Erzbistum
Freiburg näher in den Blick zu nehmen. Der Korrektheit halber sei an dieser Stelle ausdrücklich
darauf hingewiesen, dass das Erzbistum Freiburg und das Großherzogtum Baden flächenmäßig
nicht ganz identisch sind - das Erzbistum hatte nämlich vor einem Jahrhundert auch noch einen
preußischen Anteil: Die ehemals selbständigen, seit 1850 zum Königreich Preußen gehörenden
Fürstentümer Hohenzollern-Hechingen und Hohenzollern-Sigmaringen. In Ehrenstetten, mitten
in Baden, wären zwar wahrscheinlich keine Angriffe von hohenzollerischen Lokalpatrioten zu
befürchten, würde dies nicht erwähnt, aber sicher ist sicher.
Innerhalb der Erzdiözese war die Situation für die Kirche in fast jeder Hinsicht günstig
. Nachdem das 19. Jahrhundert mit der Säkularisation, dann später mit den teils heftigen
Auseinandersetzungen zwischen Staat und Kirche - genannt sei nur der „Kulturkampf - aus
katholischer Sicht kein allzu erfolgreiches gewesen war, fühlte man sich nun, zu Beginn des 20.
Jahrhunderts, wieder erheblich besser und auf gutem Weg zu neuer Größe und Bedeutung. Die
Katholiken stellten in Baden zwei Drittel der Bevölkerung und hatten mit der Zentrumspartei mittlerweile
auch im politischen Diskurs eine Stimme, die nicht zu überhören war. Die Bevölkerung
wuchs rasch, die bestehenden Pfarreien vor allem in den Städten wurden immer größer, zahlreiche
neue Pfarreien entstanden.
Mit der 1888 eingeführten „örtlichen" Kirchensteuer hatte sich auch die finanzielle Situation
der katholischen Kirche erheblich verbessert, und so konnte man seit den 1890er-Jahren den
„Investitionsstau" zunehmend abbauen. Waren in den dreißig Jahren von 1864 bis 1893 im
gesamten Erzbistum pro Jahrzehnt im Durchschnitt etwas mehr als 50 kirchliche Gebäude -
Kirchen, Kapellen, Pfarrhäuser etc. - neu errichtet worden, so steigerte sich die Zahl der
Neubauten im Jahrzehnt von 1894 bis 1903 auf 124, also auf fast das Zweieinhalbfache.7 Und
in den zehn Jahren von 1904 bis zum 1913, also bis zum Vorabend des Ersten Weltkriegs, waren
es gar 179 Neubauten. In den fünf Jahren von 1908 bis 1912 zum Beispiel sind es allein in
der näheren und nicht ganz so nahen Umgebung von Ehrenstetten folgende Kirchen: Aftersteg,
Dinglingen, Freiburg-Haslach, Friesenheim, Geschwend, Kollnau, Kuhbach, Schönau im
Wiesental, Schuttertal und Sulzburg.
Vgl. Werner Wolf-Holzäpfel: Kirchenbau und religiöse Kunst. Die historische und künstlerische
Entwicklung von den Anfängen des Erzbistums bis in die Gegenwart, in: Geschichte der Erzdiözese
Freiburg, Bd. 1: Von der Gründung bis 1918, hg. von Heribert Smolinsky, Freiburg/Basel/Wien 2008, S.
493-598, hier S. 504f.
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