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Reformation und die damit verbundene Kirchenspaltung. Zuvor, vor der Entstehung der protestantischen
Kirchen, war hierzulande praktisch alles, was christlich war, auch katholisch. Danach
aber musste sich die katholische Kirche einiges einfallen lassen, um zu verhindern, dass der
Schaden noch größer wurde. Vor allem musste sie sich selbst reformieren und möglichst rasch
die Missstände, die zur Reformation geführt hatten, beseitigen. Des Weiteren musste sie sich
theologisch neu zentrieren und ihre Position klar und entschieden gegen die Standpunkte der
Reformatoren abgrenzen. Drittens mussten die katholischen Hirten ihre Herde wieder zusammenführen
und sich einen klaren Überblick darüber verschaffen, wer denn eigentlich überhaupt
noch dazugehörte. Und schließlich musste in nicht zu großen Zeitabständen kontrolliert werden,
ob sich alle, die Mitglieder der römisch-katholischen Kirche waren, auch tatsächlich an die vorgegebenen
Regeln hielten.
Dem Konzil von Trient verdanken wir also, neben all den seinerzeit beschlossenen und
durchgeführten theologischen Reformen, das eigentlich nicht neue, aber neu erfundene
Instrument der Kirchenvisitation. Und den im Erzbischöflichen Archiv in Freiburg verwahrten
Visitationsakten verdanken wir die Möglichkeit, den Zustand einzelner Pfarreien zu bestimmten
Zeitpunkten schlaglichtartig beleuchten und darstellen zu können. Die bei den Visitationen
entstandenen Akten bieten freilich stets nur eine „Momentaufnahme". Zudem sind sie stark
durch die jeweiligen kirchenpolitischen oder seelsorgerlichen Absichten der Obrigkeit geprägt,
die keineswegs immer die gleichen Fragen stellt. Weiterhin hängt das Ergebnis der Visitation
natürlich immer auch mehr oder weniger stark davon ab, in welchem Verhältnis Visitator und
visitierte Pfarrgemeinde zueinander stehen. Ein Dekan, der mit dem Pfarrer befreundet ist, wird
vermutlich etwas weniger streng urteilen als einer, der seinen Mitbruder partout nicht ausstehen
kann. Was Professor Eberhard Schockenhoff am 16. September 2012 in Ehrenstetten über die
Mitglieder der deutschen Bischofskonferenz gesagt haben soll, gilt in ähnlicher Weise auch für
Pfarrer und Dekane: Das Wort „Mitbruder" ist mitunter durchaus in der Bedeutung zu verstehen,
die im politischen Tagesgeschäft dem Begriff „Parteifreund" zukommt - wir kennen doch alle
die Steigerungsformen Feind, Todfeind, Parteifreund?
Im Fall von Ehrenstetten kommt noch die Erschwernis hinzu, dass es erst mit der Errichtung
der Pfarrkuratie im Jahr 1934 einigermaßen selbständig wurde und dass es somit erst seit den
1930er-Jahren separate Visitationsakten für Ehrenstetten gibt. Davor wurde es zusammen mit
Kirchhofen visitiert und - wenn überhaupt - allenfalls am Rande erwähnt. Beispielsweise im
Jahr 1907, zu einem Zeitpunkt also, als schon seit geraumer Zeit heftig über den Bau einer
Kirche und die mögliche Gründung einer Pfarrei diskutiert worden war. Die Visitation fand am
20. und 21. August 1907 statt; Visitator war Dekan Joseph Hummel aus Ebnet. In seinem Bericht
schrieb er unter Punkt 10, in dem er eine Kurze Charakterisierung [...] des religiösen und sittlichen
Zustandes der Pfarrei geben sollte:
Die Gesinnung und Gesittung ist im Allgemeinen eine noch gut christliche und kirchliche
; nur die Filialisten in Ehrenstetten haben bei den öffentlichen Wahlen nicht ganz
tadellos sich gehalten.34
Was war da vorgefallen? Mit Gewissheit sagen kann ich es leider nicht, aber ich kann ein
paar - für mich plausibel scheinende - Vermutungen anstellen. Mit den im Visitationsbericht
von 1907 genannten „öffentlichen Wahlen" könnte die Reichstagswahl vom 25. Januar 1907
gemeint sein. Da hatten im Wahlkreis Lörrach-Müllheim, zu dem mit dem Amtsbezirk Staufen
auch Kirchhofen und Ehrenstetten gehörten, die Nationalliberalen 40 Prozent der Stimmen
EAF, B4/6016, Visitationsbericht vom 21. Oktober 1907.
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