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geringe oder gar keine Bedeutung zugemessen worden war. Zur allgemein erst spät einsetzenden
Aufarbeitung der NS-Zeit gehörte es in den ersten Nachkriegsjahrzehnten auch in Freiburg nicht,
sich der hier geborenen oder niedergelassenen „Söhne und Töchter der Stadt" im Rahmen einer
lokalgeschichtlichen NS-Täterforschung anzunehmen. Zwar wurden 1985 einige der notwendigen
Fragen unter dem Eindruck der Ereignisse gestellt; sie blieben aber, folgt man Böhmes
knappen fünf Seiten Erinnerungen, bis heute ohne hinreichende Antworten: „Was hatte sich in
unserer idyllischen (!) Stadt abgespielt? Wie nahe waren alltägliche Wohlanständigkeit und Normalität
und der Abgrund unmenschlicher Grausamkeit und krimineller Verwerfung beieinander
gewesen? Und wie konnte dies alles verdrängt worden sein?"7 Der karge Freiburger Aktenbericht
zur Causa Mengele gab darauf sicher keine Hinweise, beschränkte sich wohl auch nur auf die
Feststellung des Freiburger Wohnsitzes der Familie 1943 und 1944 und gab vor allem keinen
Anlass, weitere Recherchen anzustellen. Vollkommen unbemerkt, jedenfalls unerwähnt blieb die
Tatsache, dass Freiburg in der Chronologie der Strafverfolgung und Suche nach Josef Mengele
bereits in den späten 1950er-Jahren an prominenter Stelle zu finden war. Die Staatsanwaltschaft
am Freiburger Amtsgericht war es nämlich, die 1959 gleich zwei internationale Haftbefehle gegen
den ehemaligen KZ-Lagerarzt erlassen hatte. Es waren die ersten Bemühungen der bundesdeutschen
Justiz überhaupt, Josef Mengele - 14 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz
und im Vorfeld des Frankfurter Auschwitzprozesses 1963 bis 1965 - ausfindig zu machen und
für seine Taten strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen.8 Doch wie war es dazu gekommen?
Die Freiburger Haftbefehle sind Ausdruck und Ergebnis einer - inzwischen gut recherchierten
- Ermittlungsgeschichte der Umwege, Flüchtigkeitsfehler und Nachlässigkeiten.9 Sie sei im Folgenden
skizziert: Die Ulmer Nachrichten hatten in ihrer Ausgabe vom 1. Juli 1958 einen Auszug
aus Ernst Schnabels Buch „Anne Frank, Spur eines Kindes" vorabgedruckt, der folgende Frage
nach Mengele enthielt: Keiner weiß zum Beispiel, wo Dr. Mengele ist, ob er umkam oder ob er
heute noch irgendwo lebt. Dr. Mengele war der Arzt, der bei den Selektionen [in Auschwitz]
unter dem Scheinwerfer stand und nach rechts schickte oder nach links, je nachdem.10 Daraufhin
war in einem Brief einer anonym gebliebenen jungen Leserin an die Zeitungsredaktion die
Vermutung zu lesen, in Mengeies Geburtsstadt Günzburg wüssten einige, wo er sich aufhalte;
mit Sicherheit aber Mengeies Vater Karl Mengele, der es einer ehemaligen Hausgehilfin anvertraut
habe.11 Die Redaktion leitete diesen Brief weiter an Schnabel und dieser schickte ihn mit
einem Begleitschreiben an die Staatsanwaltschaft in Ulm. Schnabels Begleitbrief wurde dabei
als Strafanzeige gewertet und an die Staatsanwaltschaft in Memmingen abgegeben, die für Günzburg
zuständig war. Noch im gleichen Monat wandte sich die Memminger Staatsanwaltschaft an
die „Kriminals-Außenstelle" Günzburg mit dem Ersuchen, die Personalien des Beschuldigten
Böhme (wie Anm. 1), S. 14.
Der erste Haftbefehl der Staatsanwaltschaft am Amtsgericht Freiburg datiert vom 25.2.1959, der zweite, in
den Anklagepunkten erweiterte Haftbefehl vom 5.6.1959. Vgl. Archiv der Staatsanwaltschaft beim Landgericht
Frankfurt (Staatsanwaltschaft LG F/M), AZ 4Js 340/68, Ermittlungsakten Mengele, Bd. 1, S. 277ff.
und S. 493ff. Haftbefehl des Amtsgerichts Freiburg vom 25.2.1959, Bl. 287. Zit. nach Sven Keller: Günzburg
und der Fall Josef Mengele. Die Heimatstadt und die Jagd nach dem NS-Verbrecher, München 2003, S.
122. Heute lagern die 292 Einzelbände der Ermittlungsakten zu Mengele im Hessischen Hauptstaatsarchiv
Wiesbaden, Abt. 631a.
Vgl. Keller (wie Anm. 8), S. 120-122; vgl. auch Irmtrud Wojak: Fritz Bauer 1903-1968. Eine Biographie,
München 2009, S. 309fT.
Zit. nach Ulrich Völklein: Josef Mengele. Der Arzt von Auschwitz, Göttingen 1999, S. 252.
Staatsanwaltschaft LG F/M, AZ 4.Js 340/68, Ermittlungsakten Mengele, Bd. 1, Bl. 7. Zit. nach Keller (wie
Anm. 8), S. 121.
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