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Seiten über Hunderte von Kilometern an das „Altreich" heranrückenden Fronten - dürften selbst
Josef Mengele Zweifel an seinem „Frontdienst" in Auschwitz und dem propagierten „Endsieg"
gekommen sein. Nicht zuletzt die Sorge um das eigene Fortkommen, die schleichende Angst vor
dem Ende des Nationalsozialismus und die zu befürchtenden persönlichen Konsequenzen als
Täter mussten bei Mengele und der Lager-SS in Auschwitz überhaupt ein zunehmend dunkles
und panisches Endzeitbewusstsein erzeugt haben. Gleichzeitig setzte man das Vernichtungsprogramm
bis in den Spätherbst 1944 uneingeschränkt fort und prolongierte den Anschein des „normalen
" Lageralltags. Dazu gehörte, sich der eigenen „Verdienste" zu versichern und den Verantwortungsträgern
beste Zeugnisse auszustellen. So erhielt Josef Mengele am 19. August 1944
durch Standortarzt SS-Hauptsturmfuhrer Eduard Wirths eine dienstliche Beurteilung, die sich in
Superlativen ergeht. Sie bescheinigt dem weltanschaulich festen und einwandfrei auftretenden,
bei den Kameraden besonders beliebten SS-Führer und Lagerarzt, selbst unter schwierigsten
Voraussetzungen zur vollsten Zufriedenheit seiner Vorgesetzten alle an ihn gestellten Aufgaben
erfüllt zu haben. Außerdem wird dem in seiner knappen außerdienstlichen Zeit eifrigst sich weiterbildenden
„Anthropologen" lobend versichert, für seine Wissenschaft einen bedeutenden Beitrag
geleistet zu haben. Die Beurteilung schließt mit der den Dienst in Auschwitz und künftige
Aufgaben umfassenden Bestnote: Mengele erscheint für jede anderweitige Verwendung und auch
für die nächsthöhere Verwendung durchaus geeignet.101 Einen entsprechenden Nachweis erbrachte
Mengele aus Sicht seiner stolzen Frau nur zwei Wochen später, als er in ihrem Beisein bei einer
„wissenschaftlichen Tagung" anlässlich der Einweihung des neuen SS-Reviers am 1. September
1944 als Hauptredner auftrat und über „Beispiele aus anthropologisch erbbiologischen Arbeiten
im KL Auschwitz" referierte.102 Irenes Aufenthalt in Auschwitz dauerte indessen länger als die
beabsichtigten vier Wochen. Sie erkrankte kurz vor der für den 11. September geplanten Rückreise
an Diphterie und einer daraus resultierenden, lebensbedrohlichen Herzmuskelentzündung.
Bis Mitte Oktober 1944 war sie im neu eingeweihten SS-Lagerlazarett stationär in Behandlung,
wovon sie die meiste Zeit im Fieberwahn zubrachte. Der in privaten Angelegenheiten durchaus
Besorgnis und Mitgefühl zeigende Mengele soll sie dort dreimal täglich besucht und - wiederum
bildungsbürgerliche Belesenheit demonstrierend - aus Honore de Balzacs Novelle „Der Diamant
" (!) vorgelesen haben.103 Als Irene Mengele schließlich Ende Oktober oder Anfang November
nach fast drei Monaten Auschwitz wieder nach Freiburg zu Sohn und Eltern zurückgekehrt
war, stand im Eindruck der zunehmenden Luftbombardements der Alliierten ihr Entschluss fest,
die Stadt in Richtung Günzburg zu verlassen. Josef Mengele, der sie nach Freiburg entweder
schon begleitet hatte oder Anfang November zu seinem „Kurzurlaub" in Freiburg eintraf, dürfte
ihr dazu geraten und seine Hilfe bei den Vorbereitungen angeboten haben. Auch in Freiburg
mehrten sich im Spätherbst 1944 die Anzeichen einer wachsenden Bedrohung durch Luftangriffe
. Bei seinem letzten, kurzen Freiburg-Aufenthalt, zeigte Papili Mengele in den Kellerräumen
des Hauses Sonnhalde 81 unvermittelt väterlich-sentimentale Besorgnis. Er, der als Lagerarzt
noch wenige Tage zuvor - und auch wieder danach und bis zuletzt - Kinder in Auschwitz seinen
Versuchen opferte, sie mitunter als seine Meerschweinchen (!)104 bezeichnete, schrieb in einem
späteren Brief: Ich entsinne mich sehr wohl, wie ich mit dem sechs Monate alten Ro (Rolf) an-
Vgl. Kubica (wie Anm. 33), S. 414f.
Vgl. Posner/Ware (wie Anm. 31), S. 79. Im erwähnten Höcker-Album (wie Anm. 98) finden sich zahlreiche
Fotografien, die bei der Einweihung dieses SS-Lazaretts am 1. September 1944 entstanden sind und
u.a. SS-Lagerärzte und das Führungspersonal der Abteilung Sanitätswesen zeigen (Eduard Wirths, Enno
Lolling). Josef Mengele ist unter diesen allerdings nicht zu erkennen.
Vgl. Posner/Ware (wie Anm. 31), S. 79.
Vgl. Zofka (wie Anm. 67), S. 260.
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