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Resümee
Am 24. Januar 1917, der „Völkerkrieg" befand sich bereits in seinem dritten Jahr, richtete Kaiser
Wilhelm II. eine Dankesbotschaft an den Kaiserlichen Kommissar und Inspecteur der freiwilligen
Krankenpflege. Darin war er voll des Lobes über die Organisation des deutschen Kriegslazarettwesens
: Sowohl bei den Lazaretten in der Etappe als auch jenen des Heimatgebietes habe
er mit Freude verfolgen dürfen, wie unter den wachsenden Ansprüchen des Krieges Anfangsschwierigkeiten
überwunden sind, wie eine Heimarmee treuer Helferinnen und Helfer gewonnen
und schließlich unter dem Zeichen des Roten Kreuzes eine großartige, die verschiedensten
Gebiete umfassende Organisation geschaffen worden ist. Bei diesen Aufgaben hätten Männer
und Frauen aller Alters- und Bildungsstufen, aller Stände und Konfessionen sich im Dienst der
Nächstenliebe zu gemeinsamer, ernster Arbeit vereint. Dies betrachte er als einen Gewinn, von
dem ich auch für die Aufgaben des Wiederaufbaues und für die Entwicklung unseres Volkslebens
im Frieden reiche Früchte erwarte."
Ähnlich wie Werthmann verbreitete damit auch Wilhelm IL den Topos von der solidarischen
Opfergemeinschaft, die sich über alle sozialen, religiösen und politischen Schranken hinweg
im Dienst am Vaterland zusammengeschlossen habe. Dabei zeigt ein genauerer Blick auf
das Freiburger Lazarettwesen im Ersten Weltkrieg, dass die große nationale Kohäsion, wie sie
von Wilhelm II. beschworen wurde, zu einem guten Teil eine Schimäre darstellte. Zwar stellte
sich das Freiburger Lazarettwesen trotz der geschilderten Probleme zumindest bis in den Sommer
1918 hinein tatsächlich als sehr leistungsfähig heraus. Doch brachen von Kriegsbeginn an
immer wieder Konflikte zwischen Stadtverwaltung, Militär und Hilfsorganisationen um Gelder
und Zuständigkeiten auf. Sie erweisen die Vorstellung von einer homogenen, an einem Strang
ziehenden Nation als politisches Konstrukt, mit dem nicht zuletzt, wie es die Erwartungen von
Wilhelm II. über die Nachkriegszeit nahelegen, die „Burgfrieden"-Konstellation des Krieges
auf Dauer gestellt und die Demokratisierung des politischen Systems verhindert werden sollte.
Darüber hinaus fördern zahlreiche Äußerungen des bürgerlichen und christlich-konservativen
Freiburg über die Verwundetenversorgung in den Lazaretten und ihre Begleiterscheinungen
jene Ängste und Ressentiments zutage, wie sie auch den antirepublikanischen Diskurs von
Weimar bestimmten sollten: Der Argwohn gegenüber dem Kampfeswillen des „gemeinen" Soldaten
, die Kritik an der laxen Sexualmoral der „einfachen" Krankenpflegerin, die Furcht vor
einer Umkehr der gesellschaftlichen Verhältnisse und die Erwartungen auf bessere Bezahlung
und soziale Absicherung - dies alles verweist bereits auf die Spannungen der Weimarer Republik
, gehörten doch die Angst vor der mangelnden nationalen Zuverlässigkeit des „gemeinen"
Mannes, die Klage über die sozialpolitische Überforderung der Republik und die Furcht vor
einem moralischen und wertemäßigen Verfall der Gesellschaft zu den Grundelementen des bürgerlich
-konservativen Denkens in der Weimarer Republik.
Bei genauem Hinsehen scheint daher in den Debatten über die Freiburger Lazarette bereits
jene politisch-gesellschaftliche Matrix auf, die später den Nationalsozialisten den Weg zur
Macht ebnen sollte. Denn einerseits versprachen die Nationalsozialisten den unteren Schichten
eine Gleichbehandlung gegenüber dem Bürgertum und die materielle Integration in die Gesellschaft
mittels Gewährung von Arbeit und Sozialleistungen. Andererseits erschienen die Nationalsozialisten
vielen Angehörigen des konservativen Bürgertums als Bollwerk gegen die politischen
Emanzipationsansprüche der Arbeiterschaft und die vermeintliche moralisch-kulturelle
Dekadenz der Gesellschaft. Was noch hinzu kam: Je mehr man sich über den Versailler Vertrag
Dankerlass von Kaiser Wilhelm an den Kaiserlichen Kommissar und Inspecteur der freiwilligen Krankenpflege
, 24.1.1917, GLA, 69 Badische Schwesternschaft, Nr. 32.
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