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Heinz Bollinger (1916-1990) war 1943 Assistent am Philosophischen Seminar der Universität
Freiburg. Er hatte einen kleinen Kreis von Gegnern des nationalsozialistischen Regimes,
die aus dem Umfeld der katholischen Jugendbewegung „Neudeutschland" kamen, aufgebaut
und war ein Verbindungsmann zur Widerstandsorganisation der „Weißen Rose". Als diese am
18. Februar 1943 in München enttarnt wurde, stieß die Gestapo bald schon, vermutlich durch
eine Denunziation, auf den Namen Bollinger. Am Abend des 5. März 1943 wurde er festgenommen
und kurz darauf mit dem Zug nach München transportiert. Ein Gestapobeamter musste
ihn in das dortige Gefängnis „überstellen". Beide kamen ins Gespräch. Zu seiner Verwunderung
berichtete ihm der Beamte, was die Gestapo über ihn und seine Verbindung zur „Weißen
Rose" schon wusste. Das erleichterte es Bollinger, seine Verteidigung vorzubereiten und in der
Gerichtsverhandlung am 19. April 1943 nur schon bekannte Einzelheiten zuzugeben. Bewusst
falsche Aussagen der Hauptangeklagten entlasteten ihn zusätzlich. So wurde er „nur" zu sieben
Jahren Zuchthaus verurteilt, weil er die hochverräterischen Unternehmungen nicht gemeldet
habe. Der hilfsbereite Freiburger Gestapobeamte warnte nach Bollingers Erinnerung auch eine
Freiburger Familie, die zu jenem Widerstandskreis gehörte, und „übte" das Verhör mit ihr ein.
Seinen Namen hatte sich Heinz Bollinger gemerkt: Eugen Selber.2
Zwei Erinnerungen, die am Anfang stehen: Auf der einen Seite ist Eugen Selber als Angehöriger
der Gestapo schwer belastet und wird von der französischen Militärregierung interniert,
auf der anderen Seite hat er einem Gegner der Nationalsozialisten durch seine Informationen
geholfen, das Leben zu retten. Wie passt das zusammen? Wie kann ein Mitglied der NSDAP,
der Gestapo und der SS Menschen beistehen, die er von Amts wegen verfolgen muss? Was war
Eugen Selber für ein Mensch?
Eugen Selbers Leben von der Kindheit bis zum „Dritten Reich"
Als erste Annäherung mag ein Überblick über sein Leben bis zur nationalsozialistischen Zeit
dienen. Geboren wurde Eugen Selber am 3. März 1895 in Offenburg. Er stammte aus einer
kleinbürgerlichen Handwerkerfamilie. Sein Vater Johann Selber (1851-1917) war Hutmacher und
wird später als Schatzungsratsdiener - eine Funktion bei der Steuerschätzung - geführt, seine
Mutter Franziska geborene Leser (1856-1940) wuchs ebenfalls in einem Hutmacherhaus auf.3
Fritz Richter u.a. Ulrich P. Ecker: Die Familie Knopf, in: ebd., S. 683-689; Andrea Brucher-Lembach:
... wie Hunde auf ein Stück Brot. Die Arisierung und der Versuch der Wiedergutmachung in Freiburg,
Bremgarten 2004, bes. S. 53-58; Bernd Serger: Ausstellung zeichnet die Geschichte des jüdischen Kaufhauses
Knopf nach, in: Badische Zeitung (BZ), 4.6.2014; Ders. : „Es sollte Warenhäuser geben, aber keine
jüdischen mehr", in: BZ, 5.6.2014; zur Emmendinger Filiale siehe Ders.: Nach 25 Jahren musste Knopf
aufgeben, in: BZ, 7.11.2014.
Gespräch mit Heinz Bollinger, 24.11.1987. Weitere Gespräche fanden am 25.11. und 8.12.1987 statt (Protokolle
in: Stadtarchiv Freiburg [StadtAF], M 2/107). Heinz Bollinger wurde im April 1945 aus dem
Zuchthaus Ludwigsburg entlassen, engagierte sich für den demokratischen Neuaufbau und wurde Philosophieprofessor
an den Pädagogischen Hochschulen Lörrach und Freiburg. Vgl. meinen Nachruf in: BZ,
2.8.1990, sowie Heiko Haumann/Dagmar Rübsam: Widerstand, in: Geschichte der Stadt Freiburg (wie
Anm. 1), S. 339-351, hier S. 339-344.
Staatsarchiv Freiburg (StAF), F 30/1 Nr. 1956-1960 (Personalakten Eugen Selber); Privatarchiv Ingeburg
Selber, Stammbaum der Inge Selber und weitere Unterlagen zur Familiengeschichte (vgl. beide Quellen
auch im Folgenden bei Angaben zur Familiengeschichte). Für den gesamten Lebenslauf ist die Akte F
30/1 Nr. 1956 besonders wichtig, die Akte Nr. 1957 bringt dazu nichts Neues; Nr. 1960 enthält lediglich
Unterlagen über Krankenbeihilfe, die übrigen Akten beziehen sich auf Besoldungsfragen u. Ä. Johann
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