http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/schauinsland2015/0138
zu erkennen. Eugen Selbers Verhalten namentlich während der nationalsozialistischen Herrschaft
macht sichtbar, dass es selbst in der Gestapo möglich war, sich Handlungsspielräume zu
bewahren.
Selber war kein Held, er hat keinen aktiven Widerstand geleistet. Seine Uberführung in die
Gestapo, die mit einem Eintritt in die NSDAP und SS verbunden war, nahm er hin, weil für ihn
ein Ungehorsam gegenüber seiner obersten vorgesetzten Behörde nicht in Frage kam und weil er
die materielle Sicherheit seiner Familie nicht gefährden wollte. Darüber hinaus dürfte er kaum
vorausgesehen haben, was im Dienst auf ihn zukommen würde. Als er aber merkte, dass die
von ihm geforderten Tätigkeiten nicht mit seinem katholischen Glauben sowie mit seinen Überzeugungen
und Wertvorstellungen in Einklang standen, geriet er in einen Zwiespalt zwischen
Pflichtbewusstsein und Gewissen. Was sollte er tun? Wem sollte er folgen? Uberblicken wir die
zugänglichen Quellen, so bleiben Widersprüche und offene Fragen.
Einige Vorgänge lassen sich nicht mehr vollständig aufklären. Wir wissen nicht, ob er vielleicht
doch bei verbrecherischen Handlungen anwesend oder sogar aktiv beteiligt war, selbst
wenn sein Name in den Quellen nicht genannt wird. Doch es sieht so aus, als ob er sich häufig
derartigen Vorgängen entziehen konnte. Wenn es nicht anders ging, führte er zwar die Befehle
und Anordnungen aus, bemühte sich indessen, bedrohten und verfolgten Menschen zu helfen. Je
nach Situation warnte er vor Verhaftungen und Deportationen, er unterrichtete Verhaftete von
den der Gestapo vorliegenden Informationen, er trachtete danach, durch seine Ermittlungen Beschuldigte
zu entlasten, er war bestrebt, den Menschen, die er nicht auf andere Weise unterstützen
konnte, wenigstens ihr Los zu erleichtern, indem er sie mit Lebensmitteln versorgte oder sie
einfach zuvorkommend behandelte. Möglich war das, weil er offenbar davon ausgehen konnte,
dass ihn seine Kollegen, mit denen er unmittelbar zusammenarbeitete, nicht denunzieren würden
, weil er als Gestapobeamter eine gewisse Autorität genoss und weil er einem Netzwerk von
Freiburger Persönlichkeiten angehörte, die dem Nationalsozialismus kritisch gegenüber standen
. Selber dürfte seine Handlungsspielräume nicht strategisch planend abgewogen haben. Aber
er schätzte anscheinend die jeweilige Situation danach ein, wie er in seinem Zwiespalt handeln
konnte, und entschied sich dann entsprechend. Eugen Selber blieb ein Rädchen im System des
Nationalsozialismus, er tat seine Pflicht im Interesse dieses Systems. Immerhin versuchte er
dabei, sich anständig zu verhalten und trotz aller Kompromisse seiner inneren Uberzeugung
zu folgen. Vielleicht gelingt es der weiteren Forschung, einen Begriff für Menschen mit einem
derartigen Verhalten wie Selber zu finden, die aus den gängigen Kategorien - NS-Täter oder
Widerstandskämpfer, Schuldiger, Mitläufer oder Entlasteter - herausfallen. Alternativen des
Handelns unter der nationalsozialistischen Herrschaft werden dabei sichtbar.
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