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Der Lehrer und seine Schüler41
Ungewöhnlich stark hat Meinecke in Freiburg aber nicht nur durch seine neuartige Geschichtsbetrachtung
gewirkt, sondern auch als akademischer Lehrer und lebenslanger Förderer einer
bemerkenswert großen Anzahl später bedeutender Historiker und Intellektueller. Von Natur
aus zurückhaltend, auf den ersten Blick geradezu schüchtern wirkend,42 hatte Meinecke als
Student oft unter Einsamkeitsgefühlen gelitten und ein starkes Bedürfnis nach Austausch und
Freundschaft entwickelt. In diesem Sinne schrieb er im Mai 1895 kurz vor seiner Heirat an
seine Braut: Am glücklichsten fühlte ich mich in meinem bisherigen Leben immer dann, wenn
ich frei und leicht mich einem freundlich verstehenden und geistig gleich gerichteten Menschen
erschließen konntet Einmal geknüpfte persönliche Verbindungen wurden von Meinecke hingebungsvoll
gepflegt. Legendär war seine Freundschaftstreue. Als er im September 1936 die Ya-
le-Universität besichtigte, war es ihm trotz der inzwischen vergangenen Spanne von 53 Jahren
ein Bedürfnis, sich nach dem Schicksal eines ehemaligen, von Yale stammenden Studienfreundes
zu erkundigen, dem er 1883 in seinem ersten Bonner Semester flüchtig begegnet war.44 Sein
Bestreben, über die Universitätszeit hinaus am Lebensweg seiner Schüler Anteil zu nehmen,
führte zur Abfassung vieler hundert Briefe.45 Anders als viele seiner Kollegen, die zwecks maximaler
Steigerung der eigenen Produktivität nach größtmöglicher „Einsamkeit und Freiheit"
(Wilhelm von Humboldt) strebten, sah Meinecke in der ansonsten oft als lästig empfundenen
akademischen Lehrtätigkeit und überhaupt in der Kontaktpflege zu seinen Schülern eine wesentliche
Bereicherung seines Lebens. Als Lehrer, so resümierte einer seiner vielen Schüler kurz
und bündig, hatte er wirklich kaum seinesgleichen.46
Bei seinem Wechsel nach Freiburg hatte Meinecke die Aussicht beflügelt, sich mehr als
bisher der wissenschaftlichen Nachwuchsförderung widmen zu können. In Straßburg war
dies durch ungünstige äußere Umstände verhindert worden. Die mit enorm viel aufreibender
Korrespondenz verbundene Herausgabe der „Historischen Zeitschrift" sowie die von seinem
Sprachfehler erzwungene, peinlich genaue Ausarbeitung von sechs Vorlesungen, in denen die
400 Jahre von der Reformation bis zum Rücktritt Bismarcks abgehandelt wurden, hatten seine
Arbeitskraft vollkommen in Anspruch genommen. Diese Belastungen reduzierten sich in Freiburg
erheblich. Der komplette Vorlesungszyklus lag nun fertig ausformuliert vor und musste
nur noch gelegentlich an den aktuellen Forschungsstand angepasst werden. Eine lebensbedrohliche
Lungenentzündung, die ihn im Winter 1907/08 fast zwei Monate ans Krankenbett fesselte,
veranlasste ihn ferner dazu, einen Teil der Redaktionsgeschäfte der „Historischen Zeitschrift"
abzugeben. So übernahm im April 1908 der 28-jährige Freiburger Privatdozent für mittelal-
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41 Als Schüler werden im Folgenden in der Regel nur jene Studenten bezeichnet, die von Meinecke erfolgreich
promoviert worden sind.
So auch der erste Eindruck seines Freiburger Lieblingsschülers: Siegfried A. Kaehler an seinen Vater, 8.
August 1907, in: Ders.: Briefe. 1900-1963, hg. von Walter Bussmann und Günther Grünthal (Deutsche
Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts 58), Boppard 1993, S. 104.
Meinecke an seine Braut, 20. Mai 1895, in: Meinecke (wie Anm. 1), S. 8.
Meinecke (wie Anm. 4), S. 57. Es handelte sich um Alfred L. Ripley (1858-1943), der aber Bankier geworden
war.
45 Da er seine gesamte Korrespondenz handschriftlich abwickelte und keine Durchschläge anfertigte, haben
sich in seinem umfangreichen Nachlass nur die an ihn gerichteten Antwortbriefe erhalten.
46 Gerhard Masur an Ernst Schulin, 18. November 1971, zitiert in: Ernst Schulin: Friedrich Meinecke, in:
Deutsche Geschichtswissenschaft um 1900, hg. von Notker Hammerstein, Stuttgart 1988, S. 313-322,
Zitat S. 313.
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