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Hegel-Kapitels in Meineckes „Weltbürgertum und Nationalstaat", intensiv mit der „Entstehung
der Hegeischen Staatsansicht" befasst, promovierte 1912 bei dem tief beeindruckten Meinecke
mit Auszeichnung und veröffentlichte seine Untersuchung, die er Friedrich Meinecke in dankbarer
Verehrung widmete, in leicht überarbeiteter Form 1920 unter dem Titel „Hegel und der
Staat".75 Die erste umfassende Darstellung der politischen Philosophie Hegels lag damit vor.
Meinecke bot dem Hochbegabten bereits 1919 die Habilitation an, was dieser aber strikt zurückwies
. Politisch konservativ eingestellt, erschütterte den Kriegsteilnehmer und - wie er sich im
November 1918 selbst gerne bezeichnete - Gefühlsmonarchisten der Kriegsausgang sehr.76 Der
Zusammenbruch der alten politischen Ordnung wurde von ihm als Untergang der von Protestantismus
und Idealismus geprägten alten deutschen Bildungskultur erlebt. Ohne Vertrauen in
die neu geschaffene Demokratie sah er ein geglücktes Leben nur noch in der Rückbesinnung
auf die ewigen Werte der Religion, in seinem Fall auf ein existenziell verstandenes Judentum,
für möglich an.77 Alles andere war ihm fragwürdig geworden. 1920 gründete Rosenzweig in
Frankfurt das „Freie Jüdische Lehrhaus", eine Art Volkshochschule des jüdischen Glaubens.
Bereits im Januar 1922 erkrankte er unheilbar an fortschreitendem Muskelschwund (ALS). Sei-
ne letzte große Arbeit war die 1924 zusammen mit Martin Buber begonnene Ubersetzung der
hebräischen Bibel, des Alten Testaments. Er starb Ende 1929. Trotz Rosenzweigs radikalem
Bruch mit seiner Vergangenheit, der Meinecke wie eine Flucht vorkam,78 riss die Verbindung
zwischen Lehrer und Schüler niemals ab. Als Freunde dem Todkranken zum 40. Geburtstag am
25. Dezember 1926 eine Festgabe überreichten, war auch Meinecke mit einer Reminiszenz an
ihre im Schicksalsjahr 1919 geführten Gespräche vertreten.79 Heute erinnert in Freiburg eine
Gedenktafel in der Herrenstr. 32 an den bedeutenden Religionsphilosophen.
Weitere Freiburger Meinecke-Schüler, die mit Erfolg die wissenschaftliche Laufbahn einschlugen
, waren Wilhelm Schüssler (1888-1965/ o. Prof. 1925)80 und Wilhelm Mommsen (1892-
1966/ o. Prof. 1929), Enkel des berühmten Theodor Mommsen.81 Beide publizierten vor allem
zu klassischen Themen der deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts, besonders zur Politik
Bismarcks. 1945 wurden sie vorübergehend aus dem Universitätsdienst entfernt, weil sie aus
innerer Überzeugung (Schüssler)82 oder aus Geltungsdrang (Mommsen)83 mit ihren nach 1933
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nationaler Kongress Kassel 1986, Bd. 1: Die Herausforderung jüdischen Lernens, hg. von Wolfdietrich
Schmied-Kowarzik, Freiburg 1988, S. 187-209, bes. S. 191-195.
Franz Rosenzweig: Hegel und der Staat, 2 Bde., München 1920.
Rosenzweig an Margrit Rosenstock, 9. November 1918, in: Franz Rosenzweig: Die „Gritlf'-Briefe. Briefe
an Margrit Rosenstock-Hussey, hg. von Inken Rühle und Reinhold Mayer, Tübingen 2002, S. 182.
Vgl. Stefan Meineke: A Life of Contradiction. The Philosopher Franz Rosenzweig (1886-1929) and his
Relationship to History and Politics, in: Leo Baeck Institute, Yearbook 36 (1991), S. 461-489.
So Meinecke in seinem kurzen Nachruf, in: HZ 142 (1930), S. 219f.
Meinecke an Franz Rosenzweig, 25. Dezember 1926, in: Meinecke (wie Anm. 11), S. 289f.
Vgl. Wilhelm Schüssler: Sonne über Gewitter. Einige Erinnerungen, Privatdruck 1969 sowie Meinecke
an Wilhelm Schüssler, 14. Mai 1946, in: Meinecke (wie Anm. 11), S. 445f.
Vgl. Bundesarchiv (BA) Koblenz, NL Wilhelm Mommsen (N 1478), Nr. 315: Typoskript einer unveröffentlichten
Autobiografie vom Februar/März 1945; Peter Köpf: Die Mommsens. Von 1848 bis heute
- die Geschichte einer Familie ist die Geschichte der Deutschen, Leipzig 2004. Mommsen studierte fünf
Semester (SS 1912 bis WS 1914) in Freiburg. Nach Kriegsteilnahme reichte er seine Dissertation über
„Richelieu und Elsass-Lothringen" im Frühjahr 1921 in Berlin bei Meinecke ein.
Schüssler stand dem Regime vor allem als entschiedener Anhänger des großdeutschen Gedankens, also
der Vereinigung Österreichs mit Deutschland, nahe. Er hatte sich schon in seiner 1913 publizierten Dissertation
mit der nationalen Politik der österreichischen Abgeordneten im Frankfurter Parlament befasst.
Obwohl Mommsen als ehemaliges DDP-Mitglied über eine demokratische Vergangenheit verfügte, stell-
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