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empfunden wurde. Wie die geradezu überschwänglichen Kommentare (u.a. Kaehler 1907102,
1909103, Herzfeld 1911 s.o.) zu Meineckes Vorlesungen zeigen, bestand ein weitverbreitetes
Bedürfnis nach Überwindung der in positivistischer Faktengläubigkeit erstarrten klassischen
Politikgeschichte - Meineckes Ideengeschichte bot in dieser Zeit eine ästhetisch wie intellektuell
überlegene Alternative und zog daher gerade philosophisch vorgebildete, für eine spätere
wissenschaftliche Karriere besonders geeignete Studenten magisch an. Trotz dieses Zuspruchs
verzichtete Meinecke aber darauf, eine wissenschaftliche Schule zu begründen.104 Dabei wäre
es im Grunde verständlich gewesen, wenn er als Erneuerer der Geschichtswissenschaft den
Ehrgeiz entwickelt hätte, die von ihm betriebene Ideegeschichte mit der Hilfe treuer Schüler
weiter zu verbreiten und in Freiburg eine - wie es im Fachjargon in solchen Fällen despektierlich
hieß - Privatdozentenzucht aufzuziehen. Meinecke lag es aber fern, seinen Schülern in thematischer
, methodischer oder gar politischer Hinsicht verpflichtende Vorgaben zu machen. Auch
reklamierte er im Methodenstreit der Historiker für „seine" Ideenge schichte keinen besonderen
Führungsanspruch.105 Wenn er die letzte Semestersitzung seiner Seminare gewöhnlich dazu
nutzte, über den geistigen Verkehr zwischen Studierenden und Lehrenden zu reflektieren und
mit einigen Worten des persönlichen Bekenntnisses zu dem menschlichen Sinn des Geschichtsstudiums
abschloss, dann zeigt dies bereits, wie fern es ihm lag, seine Schüler zu Parteigängern
einer bestimmten wissenschaftlichen Richtung zu degradieren.106 Im Gegenteil: Als die nach
1900 als Vorbild der eigenen Moderne zunehmend geschätzte Renaissance auch die historische
Phantasie seiner Freiburger Schüler zu entflammen begann, folgte er dem an ihn herangetragenen
Wunsch und bot auch über diese Epoche Seminare an.107 Gemäß seinem pluralistischen
Wissenschaftsverständnis strebte Meinecke danach, seinen Schülern eine feste methodische
Schulung als Grundlage zu geben, gewährte aber ansonsten die größtmögliche Freiheit bei der
Entfaltung der individuellen Interessen und Begabungen. Man könnte es auch so ausdrücken:
Gerade weil Meinecke keine Schule gründen wollte, waren seine Schüler überdurchschnittlich
erfolgreich.
Zweitens besaß Meinecke in hohem Maße pädagogische Fähigkeiten und verband in seltener
Weise intellektuelle Brillanz mit eindrucksvoller Menschlichkeit. In einer Zeit, in der sich
Studenten gewöhnlich mit „Sie" anredeten und im Hörsaal gedruckte Visitenkarten austauschten
, ließ Meinecke in ganz außergewöhnlichem Maße persönliche Nähe zu und kümmerte sich
fürsorglich um seine Schützlinge. So führte er mit jedem Studenten, der an einem seiner Seminar
teilnehmen wollte, ein persönliches Zulassungsgespräch durch, in dem er sich genau über
den bisherigen Werdegang des Kandidaten berichten ließ. Lag ein entsprechender Anlass vor,
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102 Kaehler an seinen Vater, 8. August 1907, in: Kaehler (wie Anm. 42), S. 103: Das Colleg war ein Erlebnis,
nachhaltiger in seiner Wirkung als eine Alpentour [...]. Ganz neue Wege sind mir da gewiesen worden [...].
Kaehler an seine Eltern, 10. Mai 1909, in: Kaehler (wie Anm. 42), S. 115f.: Ich kann noch keinen Begriff
von dieser Stunde geben; sie war als Vorlesung vollendet. Kein Wort zu viel, keines ohne Anschauung,
keines, das entbehrt werden konnte, und nicht von Satz zu Satz, von Wort zu Wort der Strom der Anschaulichkeit
steigend und fortreißend; [...] durchleuchtet von der feinen Ehrfurcht und wägenden Scheu des
Universalhistorikers [...].
So schon Rothfels in seiner Freiburger Abschiedsrede vom Juli 1914 (wie Anm. 87), S. 124.
Auch bei seiner Redaktionsführung der HZ, die er gerade nicht zum Sprachrohr bestimmter Schulen
machen wollte, kam dies zum Ausdruck. Vgl. Ritter (wie Anm. 11), S. 24-52, bes. S. 36f.
Lebensstationen Friedrich Meineckes, in: Meinecke (wie Anm. 11), S. 60, und Herzfeld (wie Anm. 37),
S. 101.
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Meinecke an Walter Goetz, 6. Juni 1909 und 25. November 1909, beide in: Meinecke (wie Anm. 1), S.
31-33.
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