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net Erstaunliches: Acht der 31 Abbildungen des Kapitels „Politische Wurzeln", neben den Kriegsbildern
Porträts des jungen Joseph Wirth mit seinen Geschwistern und eine Aufnahme der Mutter, stammen aus
dem Russischen Staatlichen Militärarchiv in Moskau, einem erst in jüngerer Zeit ausgewerteten Teil des
dortigen Wirth-Nachlasses.
Diese Quelle taucht mit sechs Nennungen unter den 52 Abbildungen im Abschnitt „Politisches Wirken
in der Weimarer Republik" auf und belegt für das Jahr 1925 eine USA-Reise Wirths, an der auch
die mit ihm befreundete Abgeordnete und Fraktionskollegin Christine Teusch teilnahm. Ein Großteil
der Bilder, die Wirths raschen Aufstieg zum Reichsfinanzminister im Kabinett Fehrenbach, dann zum
Reichskanzler, später als Minister mit wechselnden Ressorts belegen, stammt aus den Beständen der
Friedrich-Ebert-Gedenkstätte, der Joseph-Wirth-Stiftung, der privaten Sammlung von Bernd Braun, dem
Bundesarchiv und verschiedenen Landesarchiven. Immer wieder ist er zu sehen an der Seite von Reichspräsident
Ebert, der 1921 Wirths Wahl gerne bestätigt habe, da dieser zum linken Flügel des Zentrums
gehörte. Wirths Kanzlerschaft wurde von tragischen Ereignissen überschattet: den politischen Morden
an Matthias Erzberger und Walter Rathenau, als „Erfüllungspolitiker" war er eine Hassfigur der Rechten
und selbst in Gefahr, einem Anschlag zum Opfer zu fallen. Außenpolitisch gelang ihm am Rande der
internationalen Konferenz von Genua der Abschluss des Rapallo-Vertrages mit Sowjetrussland.
Besonderes Interesse verdienen die Abschnitte über Wirths Leben nach seiner Zeit als aktiver Staatsmann
und Mandatsträger: die Jahre des Exils von 1933 bis 1948 mit Stationen in Paris, London und am
längsten in Luzern, dann seine Rolle in der Politik der jungen Bundesrepublik in Opposition gegen Adenauers
Westintegration, die Reisen in die DDR und nach Moskau. Diese letzte Phase, die sich vor dem
Hintergrund des Kalten Krieges abspielte, rief schon unter den Zeitgenossen Irritationen hervor, wurde
hitzig diskutiert im Zusammenhang mit dem 100. Geburtstag und der „unterlassenen Ehrung" und hat bis
heute keine einheitliche Bewertung erfahren. Wulf Rüskamp gab in der Badischen Zeitung vom 29. Juni
2016 zu bedenken, dass Wirth bei allem Wohlmeinen im Sinne Stalins und der SED gearbeitet habe und
seine Bewegung „Bund der Deutschen" von Ostberlin gesteuert worden sei. „Solche Behauptungen sind
nicht plumper Antikommunismus [...], sondern gehören zu jenem erst nach 1990 Zug um Zug aufgeklärten
Komplex, wie sehr sich SED, Stasi und andere DDR-Organisationen in Westdeutschland eingemischt
haben. Inwieweit Joseph Wirth das überblickt hat oder nur Opfer seines politischen Ehrgeizes war, ist
unklar. Aber auf diese Diskussion geht Hörster-Philipps erst gar nicht ein. Die DDR jedenfalls behandelte
ihn, anders als die Bonner Republik, als Staatsmann, auch wenn er dazu nie ein Mandat hatte. Der Aufstand
vom 17. Juni 1953 - Leute seiner Gesinnung hielten das ohnehin für einen „Putschversuch", und
auch in diesem Buch spielt das Datum keine Rolle - hinderte ihn nicht daran, sich wieder in die DDR
und die Sowjetunion einladen zu lassen. Die verlieh ihm 1955 den Stalin-(später: Lenin-)Friedenspreis -
warum auch immer. Aber selbst davon ist in diesem Buch nichts zu lesen."
Erfolgreich und segensreich wirkte Wirth im humanitären Bereich als Helfer bei der Flucht verfolgter
Juden und vor allem nach Kriegsende mit der Organisation von Lebensmittelsendungen aus der
Schweiz in das besetzte Deutschland. Bildmaterial hierzu stammt zum Teil aus dem Archiv des Deutschen
Caritasverbandes. Bei genauer Lektüre kann man erkennen, dass Wirths Zusammenarbeit mit der
„Katholischen Deutschlandhilfe" nicht ganz spannungsfrei war, weshalb er 1946 an der Gründung der
„Christlichen Nothilfe" mitwirkte. Der Band bietet nicht nur einen Überblick über Wirths Biographie bis
zum Begräbnis 1956 auf dem Freiburger Hauptfriedhof, das der spätere Generalvikar Ernst Föhr leitete
und mit einer ehrlichen, aber verständnisvollen Ansprache begleitete, sondern belegt die Rezeptionsgeschichte
bis in die Gegenwart. Das letzte Bild zeigt Wirtschaftsmanager Prof. Klaus Mangold, von 2000
bis 2010 Vorsitzender des Ostausschusses der Deutschen Wirtschaft und seit 2005 Honorarkonsul der
Russischen Föderation für Baden-Württemberg, bei einer Veranstaltung der Joseph-Wirth-Stiftung und
der IHK Südlicher Oberrhein zum Thema „Dialog mit Russland". Renate Liessem-Breinlinger
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