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es selbst noch so eng, wieder in Werder zu vereinigen! Ein Lebensende im Kloster wurde ihm
einst vorausgesagt. Mancherlei Berührungspunkte, schreibt er in einem Brief vom 1. August
1943.
Die Briefe Kuenzers aus der Zeit seiner Gefangenschaft erinnern in mancherlei Hinsicht
an die Gefängniskorrespondenz des Helmuth James von Moltke, die uns in den letzten Jahren
durch mehrere Veröffentlichungen zugänglich gemacht worden ist. Unverkennbare Anklänge
betreffen nicht nur die Ähnlichkeit des Milieus (Kuenzer stammt aus der Welt des Großbürgertums
, es bestehen aber auch Verbindungen zum Adel, durch die Mutter Richard Kuenzers,
geborene Freiin von Beust, später auch durch seine Frau, geborene Gräfin von Inn- und Knyp-
hausen), sondern auch das geistige Niveau der beiden Herren. Die Kuenzer- und Moltke-Brie-
fe ähneln sich auch in der Art und Weise, wie sie die Dinge des Alltags thematisieren: die
Sorge um ihre Frauen, die Verpflegung und Besorgung der Wäsche, behördliche und andere
Erledigungen oder Aufgaben, die normalerweise die inhaftierten Männer übernommen hätten.
Und zwischen all dem Alltäglichen immer wieder der Ausdruck tiefer Liebe zu ihren Frauen.
Kuenzers größte Freude ist es, wenn ein Brief von ihr kommt, wenn er, ihr schreibend, mit ihr
plaudern kann. In einem morgendlichen Ritual, das er Flaggenhissung nennt, stellt er sich ihr
Bild und das seiner Tochter auf. Einen Gruß an seine Frau zu schreiben, ist für ihn wie ein Morgengebet
.43 Insgesamt sind die Briefe Kuenzers im Vergleich zu denen Moltkes in einem etwas
nüchterneren Ton gehalten.
Kuenzer bittet seine Frau, ihm Lektüre ins Gefängnis zu bringen. Alles interessiert ihn:
Historisches, Politisches, Schöngeistiges. Auch englische und französische Schriften sind darunter
: Pascal, Metternich (auf Französisch), Rousseau, Shakespeare, Pearl S. Buck, „Gone with
the wind", „Churchill 1916-1918", aber auch Briefe berühmter Männer an ihre Frauen. Selbst
Romane oder Dramen gehören dazu, denn seine Frau hat früher manchmal seinen Mangel an
Phantasie beklagt, den er nun ausgleichen möchte. So erklärt er ihr am 22. August 1943: [...]
für das Gleichgewicht brauche ich neben der anderen Lektüre immer auch etwas die Phantasie
Beschäftigendes. Dazwischen studiert er die Briefe Prokeschs, des Großonkels seiner Mutter
Ida Kuenzer, Diplomat und Orientkenner im 19. Jahrhundert. Er liest im Gefängnis auch gerne
Bücher, deren Thema seiner eigenen Situation entspricht, wie etwa über Napoleon auf St. Helena
oder Dietrich Bonhoeffer. Dabei geht es nicht allein darum, die Zeit, trotz allem, sinnvoll
zu verbringen. Vielmehr zeigt sich hier auch sein in der Extremsituation nicht nachlassendes
Interesse an der Welt.
Die Zeit ist hier so kostbar wie draußen, hatte Moltke in einem seiner Briefe geschrieben.
Den Tag verbringe ich mit dem Lesen und Nachdenken. Ich poliere eifrig an meinem inneren
Menschen herum und bin gespannt, ob das Erfolg haben wird. Die Voraussetzungen dafür sind
natürlich glänzend, denn hier gilt nur, was man in sich hat oder finden kann.44 Zeit, die genutzt
wurde, zur Lektüre, aber auch zum Nachdenken. Ich habe jetzt viel Zeit zum Nachdenken,
schreibt auch Kuenzer schon zu Beginn seiner Haftzeit, und so sage ich mir: Wenn wir wieder
zusammen sind, so werden wir unsere Familien-Innigkeit noch mehr genießen als zuvor, gewissermaßen
von höherem Stockwerk [aus] und mit subtileren Sinnen.45
Wie für Moltke, so sind auch für Kuenzer die Briefe Quelle des Trostes: Dass Deine Briefe
die größte Freude in meinem gegenwärtigen Dasein sind, weißt Du.46 An anderer Stelle heißt es:
Brief von Richard Kuenzer an seine Frau Gerda vom 14.02.1944 (im Privatbesitz der Familie).
von Moltke (wie Anm. 42), Brief an Freya vom 23./24.01.1944.
Brief von Richard Kuenzer an seine Frau Gerda vom 29.07.1943.
Brief von Richard Kuenzer an seine Frau Gerda vom 16.05.1944 oder auch vom 21.05.1944: Durch Deine
lieben Briefe fügst Du mir namenlose Wohltaten zu.
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