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Kuenzer und seine Leidensgefährten werden in den verschiedenen Gefängnissen gefoltert.72
Die spätere Ordensschwester Isa Vermehren berichtet: Zu den nicht zu vergessenden Gestalten
[...] gehörte der alte Herr Kuenzer, der eines Morgens eingerollt in eine Decke vom Verhör
zurückgebracht wurde. Man hatte ihn so furchtbar dabei geprügelt, dass er über 14 Tage bei
offener Zelle unter ständiger Pflege mehr tot als lebendig im Bett lag.73
Auch unter den zunehmenden Luftangriffen haben die Gefangenen zu leiden. In der Einleitung
zu Helmuth James und Freya von Moltkes „Abschiedsbriefen" wird die Situation wie folgt
beschrieben: Die von Sirenengeheul angekündigten Bombenangriffe der Alliierten nahmen in
den Monaten seiner Haft an Häufigkeit und Intensität zu. Während das Wachpersonal in die
Bunker eilte, mussten die Gefangenen gefesselt in den Zellen ausharren. (...) Die Gefängnisse in
der Lehrter Straße und in Tegel wurden im Laufe dieser Monate teilweise von Bomben getroffen.
Helmuth überkam jedes Mal Todesangst.14
Schmerzhafte Erfahrungen und Situationen möchte niemand gerne erleben. Aber sie haben
ein Gutes, sie beschenken mit Lebenserfahrung, mit einer neuen Sicht der Dinge, auch mit einer
anderen Wahrnehmung der Mitmenschen, einem tieferen Interesse an ihrem Schicksal. Kuenzer
bringt dies in seinen Briefen immer wieder zum Ausdruck. An Gerda schreibt er zwei Monate
nach seiner Verhaftung, am 8. September 1943: Mir ist, als wären wir uns durch die Trennung
noch näher gekommen, und das wird für mich die bleibende Frucht dieser Wochen der Prüfung
sein. You cant eatyour cake and have it, so lautet ein englisches Sprichwort. Das ist leider nicht
möglich, die Weisheit aus der schmerzlichen Erfahrung ist ohne die Erfahrung selbst nicht zu
haben. Richard Kuenzer formuliert diesen Gedanken so: Wenn wir die Weisheit, die wir durch
namenlos schmerzliche Erfahrungen erworben haben, schon vorher besessen hätten, wie vieles
hätten wir dann anders und klüger gemachtl75 Das, was vorher selbstverständlich war, wird von
diesem neuen Standpunkt aus zu etwas noch Kostbarerem.
Am 28. Januar 1945 ist er 20 Jahre verheiratet. Anderthalb Jahre dauerte zu diesem Zeitpunkt
die Trennung. Fast zwei Jahre zuvor, am 8. September 1943 hatte er geschrieben: Wir sind
18 V2 Jahre glücklich verheiratet und ich hoffe zu Gott, daß sich noch manches glückliche Jahr
angliedern wird. Deshalb wollen wir nicht kleinmütig werden ob der Unterbrechung. Wenn man
ihn so „kennenlernt" wie jetzt durch seine Briefe, fällt es umso schwerer, daran zu denken, dass
er nur 8 Tage vor Kriegsende sterben musste.
Anmerkungen zur politischen Lage
So ausführlich Kuenzer über sein Leben berichtet und seine persönlichen Gedanken mitteilt,
so zurückhaltend ist er, was die allgemeine politische Lage angeht. Diese Zurückhaltung ist
angesichts der Zensur mehr als verständlich. Gleichwohl kommt es vor, dass einer seiner Briefe
zensiert wurde. So findet sich in einem Brief, den er zu Weihnachten 1941 an seine Frau
schreibt, die Bemerkung: Es wäre nachgerade allgemeine Erkenntnis, dass nur der Sturz des
Regimes das Unheil beenden kann und die Ansichten der Urteilsfähigen weichen nur in der
Vgl. Tuchel (wie Anm. 40).
Vermehren (wie Anm. 41), S. 41f., bzw. ihre Aussage vom 29.08.1945 in: Archiv der Mahn- und Gedenkstätte
Ravensbrück: Erlebnisberichte, Bd. 21/203/1-3; vgl. auch Dies.: Der Mensch - das Kostbarste!
Erfahrungen und Gedanken, Annweiler 2008.
Helmuth James von Moltke/Freya von Moltke: Abschiedsbriefe Gefängnis Tegel: September 1944-Ja-
nuar 1945, hg. von Caspar von Moltke, München 2011, S. 19.
Brief von Richard Kuenzer an seine Frau Gerda vom 16.02.1945.
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