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fragen an englische Verhältnisse sind die Punkte, welche die Anklageschrift hier aufzählt. Was
ist mit einem „Entgegenkommen in der Kirchen- und Judenfrage" gemeint, ein weiterer Punkt,
den die Anklageschrift unter den Zugeständnissen nennt?
Die Anklageschrift betont die führende Rolle Kuenzers bei den Umsturzplänen. Kuenzer
hatte früh seine Kontakte genutzt, etwa zum früheren deutschen Reichskanzler Dr. Wirth, den
er im Herbst 1941 in der Schweiz aufsuchte, um mit ihm über die politische und militärische
Lage zu sprechen und Friedensmöglichkeiten zu erörtern. Auf den Hinweis Dr. Wirths hin wurde
der frühere Staatssekretär Dr. Kühlmann als künftiger Außenminister ins Auge gefasst. Er
sei, wie es in der Anklageschrift heißt, der einzige Deutsche, der sich mit Churchill gut stehe,
und aus diesem Grunde ausgewählt worden.
Bemühungen von deutscher Seite, die von einzelnen Persönlichkeiten ausgingen, waren von
dem Gedanken getragen, dem Ausland die Augen zu öffnen, was den wahren Charakter Hitlers
betrifft.86 Die Appeasement-Politik der Regierung Chamberlain ging von der Annahme aus,
dass man durch Zugeständnisse an Hitler mit diesem zu zuverlässigen Vereinbarungen kommen
und so den Frieden in Europa aufrechterhalten könne, zumindest aber genügend Zeit für die
eigene Aufrüstung gewinne.87 Churchill hat dann die Appeasement-Politik beendet. Die Gegner
Hitlers waren jedoch längst davon überzeugt, dass Hitler in seinem Größenwahn nicht zu
bremsen sein würde. Nach Errichtung des Protektorats Böhmen u. Mähren reist Kuenzer nach
London. Er drängt die britische Regierung, Hitler in nichts mehr nachzugeben. Auch nimmt er
Einfluss auf die Aufnahme Churchills ins Kabinett.88
Bereits im Winter 1938/39 kam es zu einer Zusammenkunft verschiedener Widerständler
um den ehemaligen, von den Nationalsozialisten entlassenen Regierungspräsidenten von Merseburg
, Ernst von Harnack, die auch Vertreter des sozialistischen Lagers oder Sozialdemokraten
wie Julius Leber umfasste und an der Richard Kuenzer ebenso wie Klaus Bonhoeffer teilnahm.89
Ziel war es, die verschiedenen zivilen und militärischen Widerstandskräfte zu bündeln.90
Ergibt schon dieses Verhalten des Angeschuldigen Dr. Kuenzer eindeutig sein gefährliches
Treiben, so fährt die Anklage fort, so lassen seine Äußerungen im Hause Solf erkennen, dass der
Angeschuldigte auch sonst verbissen gegen den Nationalsozialismus gehetzt und auf einen Sturz
der Reichsregierung hingewirkt hat. Offensichtlich ein Verbrechen. Die Anklage führt zum Beleg
dieser Behauptung u.a. Kuenzers Erzählung angeblicher schaurigster Gräuelmärchen über
die Erschießung von Juden an. Aber nicht nur realistische Äußerungen über die allgemeine Lage
begründeten Kuenzers Ruf als NS-Gegner. Er hat sich, wie bereits während seiner Kriegsgefangenschaft
auf Malta, nie gescheut, die Dinge klar beim Namen zu nennen und seiner Ablehnung
und Empörung Ausdruck zu geben, etwa mit der in der Anklageschrift zitierten Äußerung: Man
müsste den Führer niederschießen wie einen tollen Hund, eine Bemerkung, die er gegenüber
dem ältesten Sohn der Frau Solf gemacht haben soll.
Hoffmann (wie Anm. 36), S. 135.
Zur Reaktion des Widerstands auf die Appeasement-Politik vgl. ebd., S. 125; Erich Kordt: Nicht aus den
Akten: Die Wilhelmstraße in Frieden und Krieg, Stuttgart 1950, S. 258f.
Stehkämper (wie Anm. 31), S. 894.
Hoffmann (wie Anm. 36), S. 124; Joachim Leithäuser: Wilhelm Leuschner. Ein Leben für die Republik,
Köln 1962, S. 182.
Otto John: „Männer im Kampf gegen Hitler (IV): Wilhelm Leuschner", Blick in die Welt 2 (1947), H. 9,
S. 20 (zitiert nach Hoffmann [wie Anm. 36]); Eberhard Zeller: Geist der Freiheit: Der 20. Juli, München
1965, S. 114; Elfriede Nebgen/Jakob Kaiser: Der Widerstandskämpfer, Stuttgart 1967, S. 114f.; Hoffmann
(wie Anm. 36), S. 135.
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