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Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch, wie die Zentrums-Führer, die dem Ermächtigungsgesetz
zugestimmt hatten, die Redlichkeit ihres Verhandlungspartners wiederholt
falsch einschätzten.130 Stehkämper formuliert:
„Ihre Anständigkeit und hohe Achtung vor dem Kanzler-Amt erlaubte es ihnen - trotz
wiederholter Betörungen - nicht, seinen Zusicherungen zu mißtrauen. Trotz aller bisherigen
Gewalttaten der Nationalsozialisten sträubten sie sich gegen wirklichkeitsgetreue
Vorstellungen über die Brutalität totalitärer Gewaltmenschen."131
Eine Einschätzung, die auch zu Kuenzer passt. Johanna Solf (Abb. 8), die die Haftzeit mit
Kuenzer geteilt hat, schreibt in ihrem Nachruf über ihn:132 „Seine Lauterkeit, der Adel seiner
Geisteshaltung machten es ihm unmöglich, die Niedrigkeit, Verlogenheit und ganze Armseligkeit
der Gestapoleute zu verstehen und zu durchschauen."
Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, wie das, was man in unserem heutigen Urteil
so schnell als ein Versagen einordnet, der Anständigkeit der betroffenen Personen zugeschrieben
wird. „Die von Gott gesetzte Obrigkeit in den Händen von Verbrechern: diesen Gedanken
vermochten die Zentrums-Führer einfach nicht zu fassen. Die herkömmliche Staatsbejahung
verhinderte eine rechtzeitige und zutreffende Einsicht", so Stehkämper. 133 Eine Aussage, die
auf Kuenzer nicht zutrifft.
Das nationalsozialistische Regime verwehrte den christlichen Widerstandskämpfern den
Status „Zeugen für Christus" zu sein und degradierte sie zu Staatsverrätern. Christen wurden
wegen ihres Christseins verfolgt, aber unter anderem Namen, „als Miesmacher, Hetzer, Förderer
des Marxismus, Zersetzer der Wehrmacht."134 Dies lag in der perfiden Logik des Systems,
dessen abgrundtiefe Niedrigkeit vielleicht auch die Dimension des christlichen Widerstands und
seiner Motivation nicht zu erfassen vermochte. Ein solches System, urteilt Hürten, müsse mit
Vorwürfen arbeiten, denn an den christlichen Glauben als solchen könne es nicht unmittelbar
anknüpfen. Warum? Weil es den Widerspruch, der doch in erster Linie aus dem christlichen
130 Vgl. Anm. 125.
131 Stehkämper (wie Anm. 31), S. 128.
132 Solf (wie Anm. 22).
133 Stehkämper (wie Anm. 31), S. 128.
134 Hürten (wie Anm. 82), S. 47.
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