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konstituiert. Sie stehen zudem in scharfer Opposition zu den nationalsozialistischen Auffassungen
, die in freien, staatlich nicht gebundenen Vereinigungen ein zu bekämpfendes Element des
politischen Liberalismus sehen.48
Dass die Machthaber alle Aktionen, die mit der Vorbereitung, Abfassung und Diskussion
der Denkschrift verbunden waren, unmissverständlich als Angriff auf den nationalsozialistischen
Staat werteten, geht aus der Anklageschrift gegen Walter Bauer (1901-1968) und Cons-
tantin von Dietze, zwei Mitglieder des „Freiburger Kreises", hervor.49 Von denen, die an der
Denkschrift mitgearbeitet hatten, wurden Carl Goerdeler (1884-1945), Dietrich Bonhoeffer und
der zur Bekennenden Kirche gehörende Jurist Justus Pereis (1910-1945) ermordet. Lampe, von
Dietze, Ritter, Bauer und der Berliner Theologe Hans Böhm (1899-1962) wurden inhaftiert und
gefoltert. Wolf und Eucken scharf verhört.
Die in der großen Freiburger Denkschrift vertretene Auffassung, dass frei eingegangene gesellschaftliche
Verbindungen eine wesentliche Bedeutung für die Persönlichkeitsbildung haben
und ihnen eine wichtige Vermittlungsrolle zwischen dem Individuum und dem Staat zukommen,
durchzieht die historischen Werke Ricarda Huchs. Dem modernen Staat mit seiner Tendenz zur Einschränkung
gesellschaftlicher Vielfalt und der modernen Wirtschaft mit ihrer Präferenz zur privaten
Machtbildung in Form von Kartellen, Monopolen und Trusts stellt Huch ihr aus einer liebevollen
Betrachtung der deutschen Vergangenheit gewonnenes Ideal entgegen. Es ist die Idee eines Reiches,
in welchem Gesellschaft und Staat nicht auseinanderfallen, in dem private Beziehungen öffentliche
Institutionen konstituieren, in dem es eine breite Selbstverwaltung der politischen und wirtschaftlichen
Angelegenheiten in Vereinen, Genossenschaften und Gemeinden geben sollte (Abb. 7).
Dass Ricarda Huch und ihr Jenaer Stammtisch5^ein regimekritisches Gelehrtenkränzchen,
sich intensiver mit Fragen der wirtschaftlichen Macht befassten und aus diesem Grunde Eu-
ckens Machttheorie und seine Marktformenlehre studierten, ist aus einem Brief Böhms vom
28. Oktober 1942 zu entnehmen.51 Eucken geht in den „Grundlagen der Nationalökonomie" u. a.
der Frage nach, in welcher Wirtschaftsordnung weder staatliche noch private Unternehmen
wirtschaftliche Macht ausüben und den freien Leistungswettbewerb einschränken oder gar verhindern
können.52 Unter dem Gesichtspunkt der Machtverhinderung komme der Marktform der
vollständigen Konkurrenz eine besondere Bedeutung zu. Nur hier erfolge die Preisbildung auf
einem anonymen Markt, nur hier können weder öffentliche noch private Anbieter oder Nachfrager
willkürlich Preise festlegen, nur hier trete das Phänomen der wirtschaftlichen Macht
ganz zurück. Walter Eucken blieb aber nicht bei der Analyse wirtschaftlicher Macht stehen.
Die Aufgabe der Nationalökonomie sei es auch, den Zusammenhang von wirtschaftlicher und
politischer Macht, die sich meist gegenseitig stützen, zu erkennen und Abhängigkeiten aufzudecken
.53 Nur im System der vollständigen Konkurrenz werden die unzähligen Einzelpläne der
Vgl. dazu etwa die antiliberale Position bei Otto Brunner: Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen
Verfassungsgeschichte Süddeutschlands im Mittelalter, Brünn u. a. 31943, S. 180f.
Veröffentlicht in: Verfolgung und Widerstand 1933-1945. Christliche Demokraten gegen Hitler, hg. von
Günter Buchstab, Brigitte Kaff und Hans-Otto Kleinmann (Veröffentlichung der Konrad-Adenauer-
Stiftung), Düsseldorf 21990, S. 253-256.
So Ricarda Huch in einem Brief vom 9.12.1939, Zitat nach Barbara Bronnen: Fliegen mit gestutzten Flügeln
. Die letzten Jahre der Ricarda Huch 1933-1947, Hamburg/Zürich 2007, S. 58. Zum Jenaer „Stammtisch
" und zu Ricarda Huchs Jenaer Zeit vgl. Volker Wahl: Ricarda Huch. Jahre in Jena (Schriftenreihe
des Stadtmuseums Jena 31), Jena 1982.
Franz Böhm an Walter Eucken; Jena, 28.10.1942, ThULB, Nachlass Walter Eucken.
Walter Eucken: Die Grundlagen der Nationalökonomie, Jena 1940.
Vgl. sein Vorwort in: Walter Eucken: Die Grundlagen der Nationalökonomie, Jena 1939 (datiert November
1939), und der 3., erneut durchgearb. Aufl., Jena 1943 (datiert Dezember 1942).
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