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Zur Einordnung in die Kirchenbau- und Architekturgeschichte
Vorgeschichte des Kirchenbaus der Nachkriegszeit
Was durch die katholische Amtskirche 1963 bis 1965 mit dem IL Vatikanum an liturgischen
Änderungen legalisiert wurde, hatte eine längere Vorlaufzeit, die ihren Ursprung in der sich in
beiden Konfessionen um die Wende zum 20. Jahrhundert herausbildenden „liturgischen Bewegung
" hatte. Seither war eine gewisse Annäherung katholischer und evangelischer Kirchenge -
bäudetypen zu verzeichnen. Gegenseitige Beeinflussungen und Rezeptionen blieben dabei nicht
aus. Die neuen liturgischen Gedanken erforderten eine andere Anordnung der Prinzipalstücke
und des Gestühls innerhalb des Kirchenraums zueinander. In den protestantischen Kirchen
führten die veränderten Vorstellungen über die Liturgie teils zu neuen, teils zum Wiederaufgreifen
älterer Grundrisslösungen. Wesentlich für beide Konfessionen war die Auflösung der
räumlichen Teilung und Abgrenzung zwischen Chor- und Gemeinderaum, durch das Hineinschieben
des Altarbereichs in das Kirchenschiff.
Die Zelebration der Messe zum Volk und die Einbeziehung der Gemeinde als Laienapostel
war, gegenüber dem seit dem Tridentinum (1545-1563) kaum verändert gültigem Ritus, für die
katholische Kirche so andersartig, dass für den katholischen Kirchenbau von einer Entwicklung
völlig neuer Grundrisslösungen gesprochen werden muss.10
Zur Geschichte der kirchlichen Gemeindezentren
Die Entwicklung von Funktion und Gestalt des Bautyps Gemeindezentren ist bisher wenig untersucht
. Wenn von den frühen Gemeindezentren des späten 19./frühen 20. Jahrhunderts die
Rede ist, findet sich meist ein Hinweis, dass es sich um einen „Gruppenbau" handelt, um dann
zur detaillierten Beschreibung der Kirche überzugehen. Auf das Arrangement als Baugruppe
und das funktionale BeziehungsSystem von Kirche, Pfarrhaus, Gemeinderäumen, Kindergarten
und Wohnungen für Kirchendiener, Organist, Diakon oder Gemeindeschwestern wird meist
nicht näher eingegangen.
Im großen Kontext langfristiger Bautypenentwicklungen betrachtet, sind um das Kirchengebäude
gruppierte Gemeindebauten keine Innovation des 19. Jahrhunderts, sondern eine Abwandlung
der bestehenden Bautypen durch sich verändernde Aufgaben in der Pfarrseelsorge. Der
uralte Gedanke von Baugruppen aus Kirchhof und Pfarrhof wurde den neuen gesellschaftlichen
Gegebenheiten bzw. der jeweils neuen Rolle der Gemeindearbeit angepasst. Unter diesem Aspekt
betrachtet, wird schnell klar, dass sich in der Auffassung der Gemeindearbeit mit dem stärkeren
Vordringen in den sozialen Bereich und die vom Vereinswesen inspirierte Gemeindegruppenarbeit
, besonders seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhundert einiges änderte. Und dies hatte großen
Einfluss auf die jeweilige Ausbildung der Baugruppe um die Kirche. Zu Zeiten, als die Erziehung
noch in kirchlicher Obhut lag, waren Kirche, Pfarrhaus bzw. Pfarrhof und Schule immer eine
zusammengehörige bauliche Anlage. Die Kleinkinderschule, heute Kindergarten genannt, ist
eine relativ junge Bauaufgabe, die sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts erst nach und nach durchsetzte
. Als seit Anfang der 1960er-Jahre der Kindergarten- und Schulbau für die geburtenstarken
Jahrgänge boomte, die Schulaufsicht endgültig von den Kirchen an die Kommunalverwaltungen
Die instruktivsten Beiträge der jüngeren Forschung zu den im Folgenden angerissenen Themenkomplexen
finden sich in: „Liturgie als Bauherr"? Moderne Sakralarchitektur und ihre Ausstattung zwischen
Funktion und Form, hg. von Hans Körner und Jürgen Wiener, Essen 2010.
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