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zepten von Kirchen als Gemeindezentren und dem dabei zu berücksichtigenden Eindringen des
Profanen in den sakralen Bereich. Aus den gesellschaftlichen Veränderungen der Gegenwart heraus
müsse sich auch das Gemeindeverständnis entsprechend verändern. Das Kirchenraumpro-
gramm müsse den Bedürfnissen des aktuellen Kirchenlebens im Kontext moderner städtebaulicher
Entwicklungen gerecht werden. Dabei seien Raumgröße und Teilnehmerzahl der religiösen
Versammlung harmonisch aufeinander abzustimmen. Eine Kirche von monumentaler Größe
könne gegenüber den die Großstädte dominierenden Bauten der Industrie, der Technik und des
Verkehrs nicht mehr bestehen. Vielmehr müsse sie sich mit bescheidenen Dimensionen der Umgebung
moderner Vorstadtsiedlungen integrieren und losgelöst vom äußeren Straßenbetrieb die
innere Sammlung und Konzentration auf den Gottesdienst und das Gemeindeleben ermöglichen.
Elsaessers Gedanken wurden seit Mitte der 1950er-Jahre von beiden Konfessionen aufgegriffen
und intensiv weiterentwickelt. Zwar konnte und sollte die Kirchenarchitektur nicht
mehr mit den Dimensionen der städtischen Profanarchitektur konkurrieren, dafür wurde eine
deutliche Unterscheidbarkeit von Profan- und Sakralarchitektur angestrebt. In den katholischen
„Richtlinien für die Gestaltung des Gotteshauses aus dem Geiste der römischen Liturgie" heißt
es 1954: „Es wäre falsch, den Außenbau des Gotteshauses in seinen Maßen und Umrissen, in
seiner Gliederung und Dekoration den Profanbauten der Zeit und der Umgebung soweit anzugleichen
, daß er wie ein weltliches Bauwerk anmutet."16 Das ist der entscheidende Kerngedanke
für den Kirchenbau der Nachkriegsmoderne! Das Kirchengebäude muss sich deutlich von der
Profanarchitektur unterscheiden und sich zu ihr abgrenzen. Dies ist der Auslöser für das, was
die enorme Individualität und Vielfalt der Formen- und Gestaltfindungen mit den Hauptmaterialien
Stahl, Beton, Glas und Holz bis zu der eigenwilligen Materialästhetik des „Beton brut"
(Sichtbeton) auszeichnet.
Zur Entwicklung des architektonischen Gestaltens
mit den Baustoffen Stahl und Beton
Diese Vielfalt wurde bautechnisch durch die erst im 19. Jahrhundert in England und Frankreich
entwickelten Baustoffe Stahl und Beton ermöglicht. Die Rationalisten unter den Architekten
des 19. und 20. Jahrhunderts erkannten, dass sich mit diesen Materialien sehr gut an die statisch
-funktionale Skelettbauweise der Gotik aus Pfeilern und Rippen, in die die Wände und Gewölbe
eingehängt wurden, anknüpfen ließ. Das führte zum Experimentieren mit den durch neue
technische Produktionsmöglichkeiten massenhaft verfügbar gewordenen Baustoffen Gusseisen,
Walz- und Schmiedeeisen sowie Beton und Stahl. Mit ihnen ließen sich die „Kraftlinien" der
Gebäude sichtbar machen.
Von den Romantikern des 19. Jahrhunderts wurde mit der gotischen Baukunst zunächst
die Nachahmung natürlich gewachsener Bäume in einem Wald assoziiert. Daran anknüpfend
herrschten im floralen Jugendstil die natürliche Kurve, die Schlinge, die gleitende Elastizität,
die biegsamen Formen und geschmeidigen Übergänge aus der Welt des Vegetabilen vor. Dagegen
setzten die sich ebenfalls auf die Romantik berufenden Expressionisten Strahl und Winkel.
Nach ihrer Auffassung ahmt die gotische Architektur die Natur nicht mimetisch nach, sondern
bildet die dahinter liegenden geometrischen Gesetze ab. Die der Natur innewohnenden Gesetzmäßigkeiten
führen zu den abstrakten, eckig-kristallinen Reduktionsformen der expressionis-
Richtlinien für die Gestaltung des Gotteshauses aus dem Geiste der römischen Liturgie, in: Das Münster,
7. Jg., 1954, S. 314-317.
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