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tischen Neugotik. Ihre Vorbilder sahen die Architekten der „Gläsernen Kette" und „Alpinen
Architektur" in der Natur der Tropfsteinhöhlen und in wilden Fels- oder Bergformationen. Ihre
expressionistischen Architekturfantasien zeichnet ein starker Ausdruck durch plastische und
bewegte Gestaltung aus. Dazu tritt eine von mittelalterlicher Altar- und Glasmalerei inspirierte
intensive Farbigkeit.
Abgesehen von den vielen zwischen dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Inflationsjahr
1923 eher malerisch-ornamental auf das Blatt geworfenen Architekturfantasien, die ohnehin
nicht realisierbar waren, blieben aber auch ernstzunehmende Bauentwurfszeichnungen
ungebaut; das geschah nicht nur aus finanziellen Gründen, sondern auch weil die technischen
Möglichkeiten der Gestaltung organisch-expressiver Formen in den 1920er-Jahren noch sehr
begrenzt waren. So konnte etwa Erich Mendelsohn beim Bau des Einsteinturms in Potsdam
(1919-1922), als er das Gegensatzpaar Funktion und Dynamik in Architektur auszudrücken
suchte, nur bedingt auf das elastische Potential des Baustoffs „Beton" für neue plastische Ausdrucksformen
zurückgreifen. Herstellungs-, Bearbeitungs- und Schalungstechnik waren noch
nicht hinreichend ausgereift, die anvisierten schwingenden Formen und elegant gekrümmten
Kurven vollständig in Stahlbeton auszuführen. Der Kernbau entstand traditionell in Ziegelmauerwerk
; nur für Kuppelkranz, Außenwände der Anbauten, Terrasse und Terrassentreppe kam
Beton zur Anwendung. Um die gewünschte Optik zu erzeugen, musste er allerdings mit einer
gleichmäßigen Schicht aus feinkörnigem Spritzguss überzogen werden. Ähnliche Probleme bereitete
die Ausführung des Entwurfs Rudolf Steiners von der Anthroposophischen Gesellschaft
für das zweite Goetheaneum in Dornach (1925-1929). Letzteres ist mit seinen doppelt gebogenen
Flächen der Außenwände ein weiteres ganz frühes Beispiel der bauplastischen Architekturgestaltung
in Sichtbeton. Die unter weitgehendem Verzicht auf rechte Winkel mit weit
gespanntem Dach entworfene monumentale Bauskulptur sollte Steiners Vorstellung des Wesens
des organischen Bauens verkörpern. Die Betonschichten wurden viel zu dünn bemessen, sodass
bald Wasser eindrang und der Stahl korrodierte, was seit den 1970er-Jahren umfangreichen Sanierungsmaßnahmen
erforderlich machte.
Dagegen ließ sich eine rationalistische Bauweise in den neuen Materialien Stahl und Beton
schon früh umsetzen. Den ersten Sakralbau in Stahlbetonskelettbauweise schuf Anatole de
Baudot mit der Kirche St. Jean de Montmartre in Paris 1904. Die erste auf Stützen getragene
Eisenbetonkirche ist Notre-Dame de Raincy bei Paris 1923, die Entwürfe stammen von den
Brüdern Perret. Wenig später errichtete Karl Moser mit der katholischen St. Anton-Kirche in
Basel (1925-1927) die erste Betonkirche der Schweiz. Auguste Perret wurde 1947 von der französischen
Besatzungsmacht delegiert, in dem von Horst Linde gegründeten Baubüro zum Wiederaufbau
Freiburgs beratend mitzuwirken. In diesem Kontext entwarf Horst Linde den Neubau
der im Krieg zerstörten evangelischen Ludwigskirche in Freiburg, die 1954 vollendet wurde.
Ein Architekt, der in seinen Entwürfen von Kirchengebäuden der 1920er-Jahre sowohl den
rationalistischen wie auch den romantisch-expressionistischen Aspekt mit den neuen Materialien
weiter zu entwickeln suchte, war Otto Bartning. Zu einem rationalistischen Vorbild in
der Kirchenarchitektur des 20. Jahrhundert wurde seine 1928 auf der Internationalen Presseausstellung
(Pressa) in Köln ausgestellte „Stahlkirche". Das einfach montierbare Stahlgerüst
wurde nach Ende der Ausstellung in Köln ab- und 1931 in Essen als Melanchthonkirche wieder
aufgebaut. Wie zuvor die Brüder Perret und Moser hatte auch Bartning die Idee der gläsernen
Kapelle in moderne Materialien übersetzt. Dieser Bautyp geht auf die quasi als begehbarer Reliquienschrein
konzipierte, 1244 bis 1248 errichtete Sainte-Chapelle in Paris zurück. Sie wurde
vom französischen König Ludwig dem Heiligen für die nach dem Vierten Kreuzzug aus Konstantinopel
erworbenen Passionsreliquien (Dornenkrone, Teile des wahren Kreuzes und Heilige
Lanze) als Capeila Vitrea errichtet und danach zum Vorbild gotischer Hochchöre.
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