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Wegen des Überspannens einer gewaltigen Raumdimension in Betonrippenkonstruktionen
gilt die 1911 bis 1913 errichtete Jahrhunderthalle in Breslau als weiterer Pionierbau in der Geschichte
des Betonbaus. Sie ist zwar kein Kirchenbau, aber den zugrunde liegenden Typus eines
aus einer Kuppel mit basilikalem Querschnitt entwickelten kreisrunden Zentralraums hat Otto
Bartning 1929/30 für seine in stilistisch ähnlich reduzierten, neusachlichen Formen errichtete
Auferstehungskirche in Essen übernommen. Dafür griff er einen schon um 1920 im Entwurf
seiner „Sternkirche" entwickelten liturgischen Gedanken wieder auf: In der Mitte des kreisrunden
Zentralraums platzierte er Altar und Kanzel. Um diese Prinzipalstücke ordnete Bartning
ringförmig die Bankreihen an. Bartnings „Sternkirche" avancierte zwar zu einer häufig
rezipierten Leitidee des Kirchenbaus der expressionistischen Gotikrezeption, wurde aber nie
gebaut. Vermutlich auch, weil das elastische Potential des Baustoffs „Stahlbeton" noch nicht so
weit entwickelt war, um die anvisierte Wechselbeziehung der liturgischen und der architektonischen
Spannung statisch berechnen und adäquat umsetzen zu können.
Neugotik in Fertigbeton als modernes Gegenstück zum Freiburger Münster
Die Badische Zeitung vom 23. April 1966 sah in Heines Entwurf der St. Albertkirche das
moderne Gegenstück zum Freiburger Münster. Indem Erwin Heine den von einer achteckigen
Laterne bekrönten gläsernen Schrein der Pariser Sainte-Chapelle in moderne Baumaterialien
übersetzte, vereinte er das Gotikverständnis der Rationalisten mit dem der Expressionisten.
Die Baumeister der Spätgotik hätten es verstanden, so Heine 1972, mit den ihnen zur Verfügung
stehenden Materialien, „die oft gewaltigen Schub- und Druckkräfte ihrer Bauwerke in
elegante Bahnen, Linien und Formen zu bannen." Wie diese „aus dem Geiste und dem Material
ihrer Zeit heraus"17, seien die Architekten der Nachkriegsmoderne gefordert, die bautechnischen
Möglichkeiten der ihnen zur Verfügung stehenden modernen Materialien adäquat zu
nutzen. Obwohl man im Kirchenbau lange gezögert habe, auch sakrale Räume mit uniformen
Serienfabrikaten zu umschließen, sei die Zeit nun reif, Gotteshäuser nach dem Prinzip des
zeitgemäßen, materialgerechten Bauens auszuführen. Dabei sei die Möglichkeit, einzelne
Elemente maschinell produzieren zu lassen, legitim. Gegenüber den auf der Baustelle in Ortbeton
hergestellten, missglückten Einzelteilen, die nicht mehr ausgetauscht werden könnten,
besäßen diese den Vorteil, jederzeit durch ein besseres gelungeneres Bauteil ausgewechselt
werden zu können. Da mit dem modernen Baustoff „Beton" nahezu jede Form konstruiert
und gestaltet werden könne, sollten Baustoff und Konstruktion gleichzeitig auch Teil der Architekturästhetik
sein. In diesem Sinne strebte Heine eine Synthese zwischen Konstruktion,
Form und Material an.
Das nach baustatischen Berechnungen des Freiburger Bauingenieurs Dr. Gerhard Holfelder
ausgeführte „Faltwerk" übersetzt das gotische Konstruktionssystem des Strebepfeilerskeletts in
V-förmige Betonstützen. Die gefalteten Deckenbinder sind wie die gotischen Deckengewölbe
in das Skelett eingehängt. Die Konstruktion entwickelte Heine spielerisch über eine Serie von
aus dünner Pappe gefalteten Modellen. Diese habe er „mit Gewichten auf verschiedene Weise
belastet, bis die nun verwirklichte Konstruktion gefunden war, die allen Belastungen standhielt
."18 Der aus künstlich geblähtem Ton und weißem Portlandzement hergestellte Leichtbeton
der Montageelemente erwies sich bei gleicher Tragfähigkeit als um ein Drittel leichter als nor-
Zitate nach Heine (wie Anm. 8), S. 8.
Badische Zeitung vom 30.08.1969.
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