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Deutsch-französische Besatzungsbeziehungen im 20. Jahrhundert, hg. von Frank Engehausen, Marie
Muschalek und Wolfgang Zimmermann (Werkhefte der staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg
, Serie A Heft 27), Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 2018, 233 S., Abb.
Die „ganze Parteiorganisation trat sofort in voller Breite drüben an, noch bevor das Land vollständig
besetzt und die staatliche Organisation richtig stand ..." Mit „drüben" ist das Elsass gemeint, das 1940
nach dem Waffenstillstand de facto von Deutschland annektiert worden war und es bis 1944/45 blieb. Zu
dieser kurzen aber einschneidenden Besatzungsherrschaft, die das deutsch-französische Verhältnis und
am Oberrhein das nachbarschaftliche Miteinander nachhaltig belastet hat, bietet der vorliegende Band
sechs wissenschaftliche Beiträge. Anlass für neue Forschungen gab 2014 das Projekt zur Untersuchung
der „Geschichte der Landesministerien in Baden und Württemberg in der Zeit des Nationalsozialismus".
Da die Zivilverwaltung im Elsass von Baden aus aufgebaut wurde, erwuchs hier ein Schwerpunkt mit
überregionaler Dimension, dem 2016 eine Tagung in Karlsruhe gewidmet wurde.
Da frühere und spätere Besatzungsregime einbezogen wurden, steht ein Beitrag über die Annexion
des Elsasses und eines Teils Lothringens nach dem Krieg von 1870 am Anfang. Stefan Fisch, Professor
an der Hochschule für Verwaltung in Speyer, deckt sehr präzise die Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte
des Reichslands ab und hebt hervor, dass am Ende jenes Krieges nicht feststand, dass aus der
Besatzung eine Dauerlösung werden sollte. Den übrigen Bundesstaaten des Kaiserreichs war Elsass-Lo-
thringen nie gleichgestellt.
Der Aufsatz „Une guerre froide franco-allemande (1918-1935)" des Colmarer Historikers Sebastien
Schlegel widmet sich Frankreich als Besatzungsmacht im Rheinland und an der Saar. Über 200.000
französische Soldaten mussten 1919 im Rheinland untergebracht werden „ä la charge des administrations
locales". Seine Hauptquelle ist das Archiv des französischen Verteidigungsministeriums in Vincennes.
Als Beteiligte am Forschungsprojekt „Geschichte der Landesministerien in der NS-Zeit" verschaffte
sich Marie Muschalek einen Überblick über die Zahl und das soziale und politische Profil der Beamten
, die ab 1940 in den Hauptverwaltungen der Zivilverwaltung im Elsass, also auf Ministerialebene in
Straßburg arbeiteten. Nach Auswertung der Personal-, Versorgungs- und Spruchkammerakten in den
baden-württembergischen Landesarchiven und der Akten im Staatsarchiv des Departements du Bas-
Rhin in Straßburg geht sie bezüglich dieser Führungselite für 1940 von 600 Personen aus. Sie stellte
fest, nach welchen Kriterien die Stellen in Straßburg besetzt wurden und von wem: Verwaltungskompetenz
und die Fähigkeit, sich auf die „besonderen Verhältnisse im Elsaß" einzustellen, waren gefragt, die
Auswahl traf die entsendende Behörde, die allerdings gehalten war, weltanschaulich gefestigte Personen
zu benennen. Die in der Literatur vertretene Vorstellung, Gauleiter Wagner habe als Chef der Zivilverwaltung
im Elsass seine NS-Personalpolitik „ungehemmt vorexerzieren" können, wird daher von der
Autorin relativiert. Im Erziehungswesen waren „hartgesottene Ideologen" am Werk, während es „in der
Finanz- und Wirtschaftsabteilung kaum NS-Ideologen" gab. Über die intensiv ausgewerteten Daten der
auf Ministerialebene tätigen Beamten erfasste Marie Muschalek mehrere Tausend weitere Personen, die
auf Kreis- oder Kommunal ebene eingesetzt waren, viele aus dem Kultusbereich und der Polizei. Sie erinnert
sie daran, dass die Mehrheit der Beamten im mittleren und unteren Dienst Einheimische waren, und
fügt das Beispiel eines Elsässers, der seine Laufbahn in der Reichslandzeit begonnen hatte, an. Durch
die Entdeckung eines Telegramms im Departemental-Archiv in Straßburg - Absender von Brauchitsch
OKW - konnte sie die Forschung in einem weiteren Punkt präzisieren: Robert Wagner wurde schon am
15. Juni 1940, also sieben Tage vor dem Waffenstillstand, zum Chef der Zivilverwaltung ernannt.
Zwei Beiträge nehmen sich des personalintensiven Kultusbereichs an: Jürgen Finger, tätig am Deutschen
Historischen Institut in Paris, der bereits 2010 die NS-Schulpolitik in Württemberg, Baden und dem
Elsass im Spannungsfeld zwischen Gleichschaltung und föderalen Strukturen untersucht hat, wählt den
Titel „Deutsche Schulpolitik aus badischer Hand". Es geht ihm um das Dreiecksverhältnis Baden - Elsass
- Reich, den Oberrhein als Gestaltungsraum, innerhalb dessen trotz der Einschränkungen durch den
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